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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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am ehesten zu erreichen. Wie oft hört man im gewöhnlichen Leben den tollsten
Ungeschmack vertheidigen mit thörichten Redensarten wie die, daß "der Ge¬
schmack eben verschieden sei" oder daß "sich über den Geschmack nicht streiten
lasse"! Versucht man dann diejenigen, die auf solche Weise entweder ihren
Ungeschmack als unfehlbar nud undisputirbar hinstellen, oder über der unend¬
lichen Mannichfaltigkeit der Schönheit die ewig sich gleichbleibenden Gesetze der¬
selben übersehen, in ruhiger Auseinandersetzung über diese Gesetze zu belehren
und ihnen zu zeigen, warum das eine schöner als das andere sei, so hält es
oft gar nicht schwer, die Leute eines Bessern zu überzeugen. Und noch leichter
wird solche Belehrung, wo es nur gilt, einem richtigen, aber vielleicht unsicheren
und unklaren ästhetischen Gefühl die Sicherheit bewußter ästhetischer Einsicht zu
geben und an die Stelle des bloß subjektiven "Das gefällt mir nicht" das
objektive "Das ist unschön" zu setzen. "Einem Menschen von gesundem Ver¬
stände," ^ sagt Lessing in seiner Dramaturgie -- "wenn mau ihm Geschmack
beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas
nicht gefallen hat."

Zu bedauern ist es nur, daß eine derartige ästhetische Unterweisung den
Leuten nicht früher gegeben wird, nicht allen gegeben wird. Darum ist in der
letzten Zeit lauter und immer lauter die Forderung ausgesprochen worden:
Die Schule muß sich der Sache annehmen. Was Hans in unserer Gene¬
ration nicht gelernt hat, das mag wenigstens Hänschen lernen, damit es Hans
in der nächsten Generation wisse. Von den vier Zielen der Erziehung, welche
Schiller in seinen "Briefen über ästhetische Erziehung" aufstellt, Gesundheit,
Einsicht, Sittlichkeit und Geschmack, hat unsre Schule lange genug einseitig das
zweite und allenfalls das dritte Ziel im Auge gehabt und dabei obendrein
Einsicht und Vielwisserei, "gutes Betragen" und Sittlichkeit oft genug mit ein¬
ander verwechselt und -- verwechselt sie zum Theil heute noch. Die Erziehung
Zur Gesundheit ist wenigstens in der jüngsten Zeit als berechtigte Forderung
anerkannt, der Turnunterricht überall obligatorisch geworden. Aber wie wenig
geschieht bis jetzt noch zur Erreichung des vierten Zieles! Zwar strebt der
deutsche Unterricht die Ausbildung nicht bloß einer korrekten, sondern auch
einer schönen Ausdrucksweise in der Muttersprache an und vermittelt eine in¬
timere Bekanntschaft mit den Hauptwerken unserer schönen Literatur; der Ge¬
sangunterricht sorgt für die Entwickelung des musikalischen Gehörs an den
einfach schönem Weisen des Chorals und des Volksliedes, aber was das wich¬
tigste ist von allem: Wo lernt unsre Jugend sehen? Denn das Scheu will
gelernt sein, und die meisten Menschen können thatsächlich uicht sehen, sie
sehen nur, sozusagen, gr"8; und doch ist dieses Sehenkönnen die unerlä߬
liche Vorbedingung alles künstlerischen Urtheils.


am ehesten zu erreichen. Wie oft hört man im gewöhnlichen Leben den tollsten
Ungeschmack vertheidigen mit thörichten Redensarten wie die, daß „der Ge¬
schmack eben verschieden sei" oder daß „sich über den Geschmack nicht streiten
lasse"! Versucht man dann diejenigen, die auf solche Weise entweder ihren
Ungeschmack als unfehlbar nud undisputirbar hinstellen, oder über der unend¬
lichen Mannichfaltigkeit der Schönheit die ewig sich gleichbleibenden Gesetze der¬
selben übersehen, in ruhiger Auseinandersetzung über diese Gesetze zu belehren
und ihnen zu zeigen, warum das eine schöner als das andere sei, so hält es
oft gar nicht schwer, die Leute eines Bessern zu überzeugen. Und noch leichter
wird solche Belehrung, wo es nur gilt, einem richtigen, aber vielleicht unsicheren
und unklaren ästhetischen Gefühl die Sicherheit bewußter ästhetischer Einsicht zu
geben und an die Stelle des bloß subjektiven „Das gefällt mir nicht" das
objektive „Das ist unschön" zu setzen. „Einem Menschen von gesundem Ver¬
stände," ^ sagt Lessing in seiner Dramaturgie — „wenn mau ihm Geschmack
beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas
nicht gefallen hat."

Zu bedauern ist es nur, daß eine derartige ästhetische Unterweisung den
Leuten nicht früher gegeben wird, nicht allen gegeben wird. Darum ist in der
letzten Zeit lauter und immer lauter die Forderung ausgesprochen worden:
Die Schule muß sich der Sache annehmen. Was Hans in unserer Gene¬
ration nicht gelernt hat, das mag wenigstens Hänschen lernen, damit es Hans
in der nächsten Generation wisse. Von den vier Zielen der Erziehung, welche
Schiller in seinen „Briefen über ästhetische Erziehung" aufstellt, Gesundheit,
Einsicht, Sittlichkeit und Geschmack, hat unsre Schule lange genug einseitig das
zweite und allenfalls das dritte Ziel im Auge gehabt und dabei obendrein
Einsicht und Vielwisserei, „gutes Betragen" und Sittlichkeit oft genug mit ein¬
ander verwechselt und — verwechselt sie zum Theil heute noch. Die Erziehung
Zur Gesundheit ist wenigstens in der jüngsten Zeit als berechtigte Forderung
anerkannt, der Turnunterricht überall obligatorisch geworden. Aber wie wenig
geschieht bis jetzt noch zur Erreichung des vierten Zieles! Zwar strebt der
deutsche Unterricht die Ausbildung nicht bloß einer korrekten, sondern auch
einer schönen Ausdrucksweise in der Muttersprache an und vermittelt eine in¬
timere Bekanntschaft mit den Hauptwerken unserer schönen Literatur; der Ge¬
sangunterricht sorgt für die Entwickelung des musikalischen Gehörs an den
einfach schönem Weisen des Chorals und des Volksliedes, aber was das wich¬
tigste ist von allem: Wo lernt unsre Jugend sehen? Denn das Scheu will
gelernt sein, und die meisten Menschen können thatsächlich uicht sehen, sie
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liche Vorbedingung alles künstlerischen Urtheils.


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[0327] am ehesten zu erreichen. Wie oft hört man im gewöhnlichen Leben den tollsten Ungeschmack vertheidigen mit thörichten Redensarten wie die, daß „der Ge¬ schmack eben verschieden sei" oder daß „sich über den Geschmack nicht streiten lasse"! Versucht man dann diejenigen, die auf solche Weise entweder ihren Ungeschmack als unfehlbar nud undisputirbar hinstellen, oder über der unend¬ lichen Mannichfaltigkeit der Schönheit die ewig sich gleichbleibenden Gesetze der¬ selben übersehen, in ruhiger Auseinandersetzung über diese Gesetze zu belehren und ihnen zu zeigen, warum das eine schöner als das andere sei, so hält es oft gar nicht schwer, die Leute eines Bessern zu überzeugen. Und noch leichter wird solche Belehrung, wo es nur gilt, einem richtigen, aber vielleicht unsicheren und unklaren ästhetischen Gefühl die Sicherheit bewußter ästhetischer Einsicht zu geben und an die Stelle des bloß subjektiven „Das gefällt mir nicht" das objektive „Das ist unschön" zu setzen. „Einem Menschen von gesundem Ver¬ stände," ^ sagt Lessing in seiner Dramaturgie — „wenn mau ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat." Zu bedauern ist es nur, daß eine derartige ästhetische Unterweisung den Leuten nicht früher gegeben wird, nicht allen gegeben wird. Darum ist in der letzten Zeit lauter und immer lauter die Forderung ausgesprochen worden: Die Schule muß sich der Sache annehmen. Was Hans in unserer Gene¬ ration nicht gelernt hat, das mag wenigstens Hänschen lernen, damit es Hans in der nächsten Generation wisse. Von den vier Zielen der Erziehung, welche Schiller in seinen „Briefen über ästhetische Erziehung" aufstellt, Gesundheit, Einsicht, Sittlichkeit und Geschmack, hat unsre Schule lange genug einseitig das zweite und allenfalls das dritte Ziel im Auge gehabt und dabei obendrein Einsicht und Vielwisserei, „gutes Betragen" und Sittlichkeit oft genug mit ein¬ ander verwechselt und — verwechselt sie zum Theil heute noch. Die Erziehung Zur Gesundheit ist wenigstens in der jüngsten Zeit als berechtigte Forderung anerkannt, der Turnunterricht überall obligatorisch geworden. Aber wie wenig geschieht bis jetzt noch zur Erreichung des vierten Zieles! Zwar strebt der deutsche Unterricht die Ausbildung nicht bloß einer korrekten, sondern auch einer schönen Ausdrucksweise in der Muttersprache an und vermittelt eine in¬ timere Bekanntschaft mit den Hauptwerken unserer schönen Literatur; der Ge¬ sangunterricht sorgt für die Entwickelung des musikalischen Gehörs an den einfach schönem Weisen des Chorals und des Volksliedes, aber was das wich¬ tigste ist von allem: Wo lernt unsre Jugend sehen? Denn das Scheu will gelernt sein, und die meisten Menschen können thatsächlich uicht sehen, sie sehen nur, sozusagen, gr«8; und doch ist dieses Sehenkönnen die unerlä߬ liche Vorbedingung alles künstlerischen Urtheils.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/327>, abgerufen am 01.10.2024.