Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schreckenerregend. Nicht bloß Leichtsinn, Genußliebe, Herrschsucht, Neid, Eifer¬
sucht, sondern niedrige Gesinnung und grobe Unsittlichkeit werden dem weib¬
lichen Geschlechte in Bausch und Bogen vorgeworfen.

Mit Aufgebung der höheren politischen und socialen Tendenzen, die Ari-
stophanes gehabt hatte, wandte sich das komische Drama nach dem peloponne-
sischen Kriege dem Privatleben zu. Erotische Themata und Liebesgeschichten
nahmen nun schon einen hervorragenden Platz ein, wie auch bereits die be¬
geisterte Aufnahme, welche des Euripides romantisch empfindsame Liebestragödie
"Andromeda" fand, den Geschmack der Zeit in dieser Richtung kennzeichnet.
Die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, vorzugsweise der niederen Stände,
die Zeichnung von typischen Volksfiguren, wie Köchen, Barbieren, Hetären,
Bauern u. s. w., und die Parodie schriftstellerischer Erzeugnisse waren Haupt¬
gegenstände dieser Komödie. Dem Gründer dieser Lnstspielgattung, Antiphanes,
wird der Ausspruch zugeschrieben: "Heirathen ist das größte Unglück". Ein
Anderer, Eubulos, sagt: "Wer nach dem Tode seiner ersten Frau eine andere
nimmt, zieht sich den Tadel aller Vernünftigen zu, denn er weiß, was eine
Frau zu bedeuten hat, und rennt dennoch in sein Verderben". Anaxandridas
endlich führt einen quasi-logischen Beweis, daß es nicht möglich sei, durch eine
Heirath glücklich zu werden. "Denn", sagt er, "ist die Frau reich, so wirst du
ihr Sklave; ist sie arm, so mußt du wie ein Sklave arbeiten, um sie zu er¬
nähren. Ist sie häßlich, fo magst du sie nicht ansehen; ist sie aber schön, so
gehört sie den Nachbarn ebenso wie dir."

Derartige Aussprüche in Gemeinschaft mit der hervorragenden Rolle,
welche eine sehr zweifelhafte Gattung von Frauen in allen diesen Stücken
spielt, bezeugen unverkennbar, daß die gesellschaftlichen Zustände schon zu
Alexander's Zeit zerrüttet waren und daß des Perikles Ausspruch, diejenige
Frau sei die beste, von welcher im Guten wie im Schlimmen am Wenigsten
geredet werde, längst aus der Beobachtung geschwunden war. Eine Rückkehr
zu besseren Sitten fand nicht mehr statt. Im Gegentheil zeigt uns die "neuere
Komödie" des Menander, Philemon, Diphilos u. f. w., welche etwa in die
Zeit von 340 bis 260 fällt, noch einen Fortschritt auf der Bahn des socialen
Verfalls. Diese neuere Komödie ist bekanntlich die Mutter unseres modernen
Lustspiels, das ohne Liebesgeschichte nicht zu denken ist, und verleugnet diese
Ahnenschaft auf keiner Seite. Ein Mädchen, das in die Gewalt eines Kupplers
gefallen ist, aus dieser aber durch einen glücklichen Zufall -- gewöhnlich noch
rein -- gerettet wird, eine lockende Hetäre, die ihre Gimpel zu fangen und
zu rupfen weiß, ein Paar Liebende, denen feindselige oder eigennützige Väter
sich entgegenstellen, die aber am Ende doch zusammenkommen, das sind die
stehenden Hauptpersonen dieser Stücke.


schreckenerregend. Nicht bloß Leichtsinn, Genußliebe, Herrschsucht, Neid, Eifer¬
sucht, sondern niedrige Gesinnung und grobe Unsittlichkeit werden dem weib¬
lichen Geschlechte in Bausch und Bogen vorgeworfen.

Mit Aufgebung der höheren politischen und socialen Tendenzen, die Ari-
stophanes gehabt hatte, wandte sich das komische Drama nach dem peloponne-
sischen Kriege dem Privatleben zu. Erotische Themata und Liebesgeschichten
nahmen nun schon einen hervorragenden Platz ein, wie auch bereits die be¬
geisterte Aufnahme, welche des Euripides romantisch empfindsame Liebestragödie
„Andromeda" fand, den Geschmack der Zeit in dieser Richtung kennzeichnet.
Die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, vorzugsweise der niederen Stände,
die Zeichnung von typischen Volksfiguren, wie Köchen, Barbieren, Hetären,
Bauern u. s. w., und die Parodie schriftstellerischer Erzeugnisse waren Haupt¬
gegenstände dieser Komödie. Dem Gründer dieser Lnstspielgattung, Antiphanes,
wird der Ausspruch zugeschrieben: „Heirathen ist das größte Unglück". Ein
Anderer, Eubulos, sagt: „Wer nach dem Tode seiner ersten Frau eine andere
nimmt, zieht sich den Tadel aller Vernünftigen zu, denn er weiß, was eine
Frau zu bedeuten hat, und rennt dennoch in sein Verderben". Anaxandridas
endlich führt einen quasi-logischen Beweis, daß es nicht möglich sei, durch eine
Heirath glücklich zu werden. „Denn", sagt er, „ist die Frau reich, so wirst du
ihr Sklave; ist sie arm, so mußt du wie ein Sklave arbeiten, um sie zu er¬
nähren. Ist sie häßlich, fo magst du sie nicht ansehen; ist sie aber schön, so
gehört sie den Nachbarn ebenso wie dir."

Derartige Aussprüche in Gemeinschaft mit der hervorragenden Rolle,
welche eine sehr zweifelhafte Gattung von Frauen in allen diesen Stücken
spielt, bezeugen unverkennbar, daß die gesellschaftlichen Zustände schon zu
Alexander's Zeit zerrüttet waren und daß des Perikles Ausspruch, diejenige
Frau sei die beste, von welcher im Guten wie im Schlimmen am Wenigsten
geredet werde, längst aus der Beobachtung geschwunden war. Eine Rückkehr
zu besseren Sitten fand nicht mehr statt. Im Gegentheil zeigt uns die „neuere
Komödie" des Menander, Philemon, Diphilos u. f. w., welche etwa in die
Zeit von 340 bis 260 fällt, noch einen Fortschritt auf der Bahn des socialen
Verfalls. Diese neuere Komödie ist bekanntlich die Mutter unseres modernen
Lustspiels, das ohne Liebesgeschichte nicht zu denken ist, und verleugnet diese
Ahnenschaft auf keiner Seite. Ein Mädchen, das in die Gewalt eines Kupplers
gefallen ist, aus dieser aber durch einen glücklichen Zufall — gewöhnlich noch
rein — gerettet wird, eine lockende Hetäre, die ihre Gimpel zu fangen und
zu rupfen weiß, ein Paar Liebende, denen feindselige oder eigennützige Väter
sich entgegenstellen, die aber am Ende doch zusammenkommen, das sind die
stehenden Hauptpersonen dieser Stücke.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0310" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138011"/>
          <p xml:id="ID_876" prev="#ID_875"> schreckenerregend. Nicht bloß Leichtsinn, Genußliebe, Herrschsucht, Neid, Eifer¬<lb/>
sucht, sondern niedrige Gesinnung und grobe Unsittlichkeit werden dem weib¬<lb/>
lichen Geschlechte in Bausch und Bogen vorgeworfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_877"> Mit Aufgebung der höheren politischen und socialen Tendenzen, die Ari-<lb/>
stophanes gehabt hatte, wandte sich das komische Drama nach dem peloponne-<lb/>
sischen Kriege dem Privatleben zu. Erotische Themata und Liebesgeschichten<lb/>
nahmen nun schon einen hervorragenden Platz ein, wie auch bereits die be¬<lb/>
geisterte Aufnahme, welche des Euripides romantisch empfindsame Liebestragödie<lb/>
&#x201E;Andromeda" fand, den Geschmack der Zeit in dieser Richtung kennzeichnet.<lb/>
Die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, vorzugsweise der niederen Stände,<lb/>
die Zeichnung von typischen Volksfiguren, wie Köchen, Barbieren, Hetären,<lb/>
Bauern u. s. w., und die Parodie schriftstellerischer Erzeugnisse waren Haupt¬<lb/>
gegenstände dieser Komödie. Dem Gründer dieser Lnstspielgattung, Antiphanes,<lb/>
wird der Ausspruch zugeschrieben: &#x201E;Heirathen ist das größte Unglück". Ein<lb/>
Anderer, Eubulos, sagt: &#x201E;Wer nach dem Tode seiner ersten Frau eine andere<lb/>
nimmt, zieht sich den Tadel aller Vernünftigen zu, denn er weiß, was eine<lb/>
Frau zu bedeuten hat, und rennt dennoch in sein Verderben". Anaxandridas<lb/>
endlich führt einen quasi-logischen Beweis, daß es nicht möglich sei, durch eine<lb/>
Heirath glücklich zu werden. &#x201E;Denn", sagt er, &#x201E;ist die Frau reich, so wirst du<lb/>
ihr Sklave; ist sie arm, so mußt du wie ein Sklave arbeiten, um sie zu er¬<lb/>
nähren. Ist sie häßlich, fo magst du sie nicht ansehen; ist sie aber schön, so<lb/>
gehört sie den Nachbarn ebenso wie dir."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_878"> Derartige Aussprüche in Gemeinschaft mit der hervorragenden Rolle,<lb/>
welche eine sehr zweifelhafte Gattung von Frauen in allen diesen Stücken<lb/>
spielt, bezeugen unverkennbar, daß die gesellschaftlichen Zustände schon zu<lb/>
Alexander's Zeit zerrüttet waren und daß des Perikles Ausspruch, diejenige<lb/>
Frau sei die beste, von welcher im Guten wie im Schlimmen am Wenigsten<lb/>
geredet werde, längst aus der Beobachtung geschwunden war. Eine Rückkehr<lb/>
zu besseren Sitten fand nicht mehr statt. Im Gegentheil zeigt uns die &#x201E;neuere<lb/>
Komödie" des Menander, Philemon, Diphilos u. f. w., welche etwa in die<lb/>
Zeit von 340 bis 260 fällt, noch einen Fortschritt auf der Bahn des socialen<lb/>
Verfalls. Diese neuere Komödie ist bekanntlich die Mutter unseres modernen<lb/>
Lustspiels, das ohne Liebesgeschichte nicht zu denken ist, und verleugnet diese<lb/>
Ahnenschaft auf keiner Seite. Ein Mädchen, das in die Gewalt eines Kupplers<lb/>
gefallen ist, aus dieser aber durch einen glücklichen Zufall &#x2014; gewöhnlich noch<lb/>
rein &#x2014; gerettet wird, eine lockende Hetäre, die ihre Gimpel zu fangen und<lb/>
zu rupfen weiß, ein Paar Liebende, denen feindselige oder eigennützige Väter<lb/>
sich entgegenstellen, die aber am Ende doch zusammenkommen, das sind die<lb/>
stehenden Hauptpersonen dieser Stücke.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0310] schreckenerregend. Nicht bloß Leichtsinn, Genußliebe, Herrschsucht, Neid, Eifer¬ sucht, sondern niedrige Gesinnung und grobe Unsittlichkeit werden dem weib¬ lichen Geschlechte in Bausch und Bogen vorgeworfen. Mit Aufgebung der höheren politischen und socialen Tendenzen, die Ari- stophanes gehabt hatte, wandte sich das komische Drama nach dem peloponne- sischen Kriege dem Privatleben zu. Erotische Themata und Liebesgeschichten nahmen nun schon einen hervorragenden Platz ein, wie auch bereits die be¬ geisterte Aufnahme, welche des Euripides romantisch empfindsame Liebestragödie „Andromeda" fand, den Geschmack der Zeit in dieser Richtung kennzeichnet. Die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, vorzugsweise der niederen Stände, die Zeichnung von typischen Volksfiguren, wie Köchen, Barbieren, Hetären, Bauern u. s. w., und die Parodie schriftstellerischer Erzeugnisse waren Haupt¬ gegenstände dieser Komödie. Dem Gründer dieser Lnstspielgattung, Antiphanes, wird der Ausspruch zugeschrieben: „Heirathen ist das größte Unglück". Ein Anderer, Eubulos, sagt: „Wer nach dem Tode seiner ersten Frau eine andere nimmt, zieht sich den Tadel aller Vernünftigen zu, denn er weiß, was eine Frau zu bedeuten hat, und rennt dennoch in sein Verderben". Anaxandridas endlich führt einen quasi-logischen Beweis, daß es nicht möglich sei, durch eine Heirath glücklich zu werden. „Denn", sagt er, „ist die Frau reich, so wirst du ihr Sklave; ist sie arm, so mußt du wie ein Sklave arbeiten, um sie zu er¬ nähren. Ist sie häßlich, fo magst du sie nicht ansehen; ist sie aber schön, so gehört sie den Nachbarn ebenso wie dir." Derartige Aussprüche in Gemeinschaft mit der hervorragenden Rolle, welche eine sehr zweifelhafte Gattung von Frauen in allen diesen Stücken spielt, bezeugen unverkennbar, daß die gesellschaftlichen Zustände schon zu Alexander's Zeit zerrüttet waren und daß des Perikles Ausspruch, diejenige Frau sei die beste, von welcher im Guten wie im Schlimmen am Wenigsten geredet werde, längst aus der Beobachtung geschwunden war. Eine Rückkehr zu besseren Sitten fand nicht mehr statt. Im Gegentheil zeigt uns die „neuere Komödie" des Menander, Philemon, Diphilos u. f. w., welche etwa in die Zeit von 340 bis 260 fällt, noch einen Fortschritt auf der Bahn des socialen Verfalls. Diese neuere Komödie ist bekanntlich die Mutter unseres modernen Lustspiels, das ohne Liebesgeschichte nicht zu denken ist, und verleugnet diese Ahnenschaft auf keiner Seite. Ein Mädchen, das in die Gewalt eines Kupplers gefallen ist, aus dieser aber durch einen glücklichen Zufall — gewöhnlich noch rein — gerettet wird, eine lockende Hetäre, die ihre Gimpel zu fangen und zu rupfen weiß, ein Paar Liebende, denen feindselige oder eigennützige Väter sich entgegenstellen, die aber am Ende doch zusammenkommen, das sind die stehenden Hauptpersonen dieser Stücke.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/310
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/310>, abgerufen am 23.07.2024.