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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Landsleuten. Wir haben an seiner Arbeit nur auszusetzen, daß er nicht durch¬
weg grammatisch richtig und auch sonst nicht besonders sauber schreibt. Im
Uebrigen können wir das Buch als eine gute Charakteristik des Volkes im
Reiche der Mitte, soweit es sich um Sprache, Schrift und Literatur handelt,
sür alle diejenigen bezeichnen, die sich nicht eingehend mit dem entlegnen und
für die Geschichte und Kultur Europa's bis jetzt wenig bedeutenden Volke zu
beschäftigen berufen und geneigt sind. Für diese genügt das hier Gebotene
vollkommen, und kaum wird jemand das Verlangen anwandeln, mit der chine¬
sischen schonen Literatur nähere Bekanntschaft zu machen. Wenn aber hier
nichts über die Mittelmäßigkeit hinausreicht, so ist es mit der Philosophie und
den heiligen Schriften des Chinesenvolkes nicht besser, und nur für die Ge¬
schichte ist durch ausführlich und zuverlässig, aber trocken und seelenlos berich¬
tende Chroniken einigermaßen gesorgt. Wie wenig selbst Konfutse nach
abendländischen Begriffen als Philosoph und Religionsstifter zu bedeuten hat,
mag ein Auszug aus dem in unsrer Schrift über ihn Gesagten klar machen.

Das älteste bekannte chinesische Schriftwerk ist das "Buch der Wand¬
lungen", welches wohl um dessentwillen von der Nation in höheren Ehren als
die übrigen acht "Klassiker" gehalten wird, weil es das am Wenigsten ver¬
standene ist. Es soll von seinem Verfasser Wang Wang im Jahre 1150 v. Chr.
im Kerker geschrieben worden sein und ist der Entwurf eines philosophischen
Systems, welches auf dem Grunde der vom Kaiser Fuhe erfundenen acht
Diagramme und ihrer vierundsechzig Permntationen ruht. Dem Wang Wang-
schen Systeme scheinen die altüberlieferten chinesischen Anschauungen von der
Schöpfung der Welt zu Grunde gelegen zu haben, nach welchen die Materie
zweien belebenden Urwesen, dem männlichen Wu und dem weiblichen Dang
ihren Ursprung verdankt, während diese selbst wieder durch das Taikei, den
Urquell alles Geschaffenen, ins Dasein gerufen wurden. Die Chinesen be¬
haupten, daß aus der Vereinigung von Jang und Ain alle belebten und un¬
belebten Wesen hervorgegangen seien, und daß der Dualismus der Geschlechter
durch sie in die Welt eingezogen sei. Sie schufen Himmel, Sonne, Tag u. f. w.
als männliche, Erde, Mond, Nacht als weibliche Wesen, eine Vorstellung, der
man in China auf jedem Gebiete des Wissens begegnet, und die u. A. auch
in der Anatomie und Medicin eine große Rolle spielt. Das Wang Wcmg-
Bnch soll übrigens in Form und Inhalt so ungenießbar und abstoßend ge¬
wesen sein, daß Konfutse sich der Aufgabe unterzogen hätte, es umzuarbeiten
und nutzbar zu machen. Manches Jahr brütete, wie erzählt wird, der Weise
über dem dunkeln Chaos, aber leider war die Welt, als die Zeit des Nach¬
denkens und Umschaffens verstrichen war, nur um einen unverständlichen
Kommentar zu einem unverstandenen Texte reicher. Der Umstand indessen,


Landsleuten. Wir haben an seiner Arbeit nur auszusetzen, daß er nicht durch¬
weg grammatisch richtig und auch sonst nicht besonders sauber schreibt. Im
Uebrigen können wir das Buch als eine gute Charakteristik des Volkes im
Reiche der Mitte, soweit es sich um Sprache, Schrift und Literatur handelt,
sür alle diejenigen bezeichnen, die sich nicht eingehend mit dem entlegnen und
für die Geschichte und Kultur Europa's bis jetzt wenig bedeutenden Volke zu
beschäftigen berufen und geneigt sind. Für diese genügt das hier Gebotene
vollkommen, und kaum wird jemand das Verlangen anwandeln, mit der chine¬
sischen schonen Literatur nähere Bekanntschaft zu machen. Wenn aber hier
nichts über die Mittelmäßigkeit hinausreicht, so ist es mit der Philosophie und
den heiligen Schriften des Chinesenvolkes nicht besser, und nur für die Ge¬
schichte ist durch ausführlich und zuverlässig, aber trocken und seelenlos berich¬
tende Chroniken einigermaßen gesorgt. Wie wenig selbst Konfutse nach
abendländischen Begriffen als Philosoph und Religionsstifter zu bedeuten hat,
mag ein Auszug aus dem in unsrer Schrift über ihn Gesagten klar machen.

Das älteste bekannte chinesische Schriftwerk ist das „Buch der Wand¬
lungen", welches wohl um dessentwillen von der Nation in höheren Ehren als
die übrigen acht „Klassiker" gehalten wird, weil es das am Wenigsten ver¬
standene ist. Es soll von seinem Verfasser Wang Wang im Jahre 1150 v. Chr.
im Kerker geschrieben worden sein und ist der Entwurf eines philosophischen
Systems, welches auf dem Grunde der vom Kaiser Fuhe erfundenen acht
Diagramme und ihrer vierundsechzig Permntationen ruht. Dem Wang Wang-
schen Systeme scheinen die altüberlieferten chinesischen Anschauungen von der
Schöpfung der Welt zu Grunde gelegen zu haben, nach welchen die Materie
zweien belebenden Urwesen, dem männlichen Wu und dem weiblichen Dang
ihren Ursprung verdankt, während diese selbst wieder durch das Taikei, den
Urquell alles Geschaffenen, ins Dasein gerufen wurden. Die Chinesen be¬
haupten, daß aus der Vereinigung von Jang und Ain alle belebten und un¬
belebten Wesen hervorgegangen seien, und daß der Dualismus der Geschlechter
durch sie in die Welt eingezogen sei. Sie schufen Himmel, Sonne, Tag u. f. w.
als männliche, Erde, Mond, Nacht als weibliche Wesen, eine Vorstellung, der
man in China auf jedem Gebiete des Wissens begegnet, und die u. A. auch
in der Anatomie und Medicin eine große Rolle spielt. Das Wang Wcmg-
Bnch soll übrigens in Form und Inhalt so ungenießbar und abstoßend ge¬
wesen sein, daß Konfutse sich der Aufgabe unterzogen hätte, es umzuarbeiten
und nutzbar zu machen. Manches Jahr brütete, wie erzählt wird, der Weise
über dem dunkeln Chaos, aber leider war die Welt, als die Zeit des Nach¬
denkens und Umschaffens verstrichen war, nur um einen unverständlichen
Kommentar zu einem unverstandenen Texte reicher. Der Umstand indessen,


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[0273] Landsleuten. Wir haben an seiner Arbeit nur auszusetzen, daß er nicht durch¬ weg grammatisch richtig und auch sonst nicht besonders sauber schreibt. Im Uebrigen können wir das Buch als eine gute Charakteristik des Volkes im Reiche der Mitte, soweit es sich um Sprache, Schrift und Literatur handelt, sür alle diejenigen bezeichnen, die sich nicht eingehend mit dem entlegnen und für die Geschichte und Kultur Europa's bis jetzt wenig bedeutenden Volke zu beschäftigen berufen und geneigt sind. Für diese genügt das hier Gebotene vollkommen, und kaum wird jemand das Verlangen anwandeln, mit der chine¬ sischen schonen Literatur nähere Bekanntschaft zu machen. Wenn aber hier nichts über die Mittelmäßigkeit hinausreicht, so ist es mit der Philosophie und den heiligen Schriften des Chinesenvolkes nicht besser, und nur für die Ge¬ schichte ist durch ausführlich und zuverlässig, aber trocken und seelenlos berich¬ tende Chroniken einigermaßen gesorgt. Wie wenig selbst Konfutse nach abendländischen Begriffen als Philosoph und Religionsstifter zu bedeuten hat, mag ein Auszug aus dem in unsrer Schrift über ihn Gesagten klar machen. Das älteste bekannte chinesische Schriftwerk ist das „Buch der Wand¬ lungen", welches wohl um dessentwillen von der Nation in höheren Ehren als die übrigen acht „Klassiker" gehalten wird, weil es das am Wenigsten ver¬ standene ist. Es soll von seinem Verfasser Wang Wang im Jahre 1150 v. Chr. im Kerker geschrieben worden sein und ist der Entwurf eines philosophischen Systems, welches auf dem Grunde der vom Kaiser Fuhe erfundenen acht Diagramme und ihrer vierundsechzig Permntationen ruht. Dem Wang Wang- schen Systeme scheinen die altüberlieferten chinesischen Anschauungen von der Schöpfung der Welt zu Grunde gelegen zu haben, nach welchen die Materie zweien belebenden Urwesen, dem männlichen Wu und dem weiblichen Dang ihren Ursprung verdankt, während diese selbst wieder durch das Taikei, den Urquell alles Geschaffenen, ins Dasein gerufen wurden. Die Chinesen be¬ haupten, daß aus der Vereinigung von Jang und Ain alle belebten und un¬ belebten Wesen hervorgegangen seien, und daß der Dualismus der Geschlechter durch sie in die Welt eingezogen sei. Sie schufen Himmel, Sonne, Tag u. f. w. als männliche, Erde, Mond, Nacht als weibliche Wesen, eine Vorstellung, der man in China auf jedem Gebiete des Wissens begegnet, und die u. A. auch in der Anatomie und Medicin eine große Rolle spielt. Das Wang Wcmg- Bnch soll übrigens in Form und Inhalt so ungenießbar und abstoßend ge¬ wesen sein, daß Konfutse sich der Aufgabe unterzogen hätte, es umzuarbeiten und nutzbar zu machen. Manches Jahr brütete, wie erzählt wird, der Weise über dem dunkeln Chaos, aber leider war die Welt, als die Zeit des Nach¬ denkens und Umschaffens verstrichen war, nur um einen unverständlichen Kommentar zu einem unverstandenen Texte reicher. Der Umstand indessen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/273>, abgerufen am 23.07.2024.