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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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festen Zeit Griechenlands. Nur ausnahmsweise finden sich in dieser Zeit
weibliche Persönlichkeiten, die in irgend einer Weise über die Schranken, mit
denen das häusliche Leben sie umgrenzte, hinausgriffen und sich öffentlich be¬
merkbar machten. Sie mußten um so mehr Aufsehen erregen, wenn sie sich
durch hervorragende Eigenschaften als zu einem derartigen Hervortreten be¬
rechtigt zeigten, wie es bei einigen Dichterinnen bereits des sechsten und einigen
andern Frauen des fünften Jahrhunderts der Fall ist.

Den ersten, vor Welcker ihr freilich vielfach streitig gemachten Platz müssen
wir hier der berühmten Lesbierin, der Freundin des Dichters Alküos, der
holden Sappho einräumen. Sie war Zeitgenossin des Solon, und es er¬
schien den übrigen damals noch ganz in den alten strengen Grundsätzen sich
haltenden Griechen eigeuthümlich genug, als sie von dieser äolischen Frau ver¬
nahmen, die in einem Kreise junger befreundeter Mädchen lebte, dieselben in
der Poesie und Musik unterwies und in glühenden, zum Theil an die eigenen
Geschlechtsgenossinnen gerichteten Liebesgedichten ihre feurigsten wie ihre zarte¬
sten und innigsten Herzensregungen aussprach. Daß diese uns wie auch den
Zeitgenossen anderer Stämme befremdliche sinnliche Gluth und offen ausge¬
sprochene Leidenschaft nur auf entschuldbare Charaktereigenschaften des äolijchen
Stammes, auf die den Frauen desselben gewährte größere Freiheit und das
leicht zu entstammende Naturell der Dichterin, keineswegs aber auf verwerfliche
Motive zurückzuführen ist, können wir jetzt als sicher annehmen. Ihre eigenen
Zeitgenossen haben ihrem Charakter nicht den geringsten Makel angehängt, son¬
dern lassen im Gegentheil ihrer hohen dichterischen Begabung nicht minder als
ihrem Seelenadel und ihrer Sittenreinheit bewundernde Achtung zu Theil
werden, und erst die jüngere attische Komödie, die die Verunglimpfung zu
ihrem Geschäft machte, hat den Makel ans die größte Dichterin und eine der
vorzüglichsten Frauen des Alterthums geworfen, unter dem ihr Andenken bis
in die neue Zeit gelitten hat. Eine Erklärung dafür findet sich leicht in dem
originalen Naturell der Dichterin und in der Differenz zwischen athenischen
und äolischen Anschauungen über das weibliche Geschlecht.

Es herrschte in der Heimath der Sappho noch die größere gesellige Frei¬
heit, wie sie uns als Eigenheit des heroischen Zeitalters in den ebenfalls auf
äolischen Boden entkeimten epischen Gedichten entgegentritt. Die äolischen
Frauen durften nicht bloß an den Fortschritten der wissenschaftlichen und künst¬
lerischen Bildung, sondern auch am geselligen und öffentlichen Leben, am Ver¬
kehr mit Männern und an selbstgewählten Beschäftigungen weit mehr Antheil
nehmen, als bei irgend einem andern Stamme gestattet wurde. Das leichte,
feurige Naturell des Stammes, die geistige Regsamkeit und die Lust an geselli¬
ger Freude veranlaßte die Frauen, diese ihre Berechtigung rückhaltlos aufzu-


festen Zeit Griechenlands. Nur ausnahmsweise finden sich in dieser Zeit
weibliche Persönlichkeiten, die in irgend einer Weise über die Schranken, mit
denen das häusliche Leben sie umgrenzte, hinausgriffen und sich öffentlich be¬
merkbar machten. Sie mußten um so mehr Aufsehen erregen, wenn sie sich
durch hervorragende Eigenschaften als zu einem derartigen Hervortreten be¬
rechtigt zeigten, wie es bei einigen Dichterinnen bereits des sechsten und einigen
andern Frauen des fünften Jahrhunderts der Fall ist.

Den ersten, vor Welcker ihr freilich vielfach streitig gemachten Platz müssen
wir hier der berühmten Lesbierin, der Freundin des Dichters Alküos, der
holden Sappho einräumen. Sie war Zeitgenossin des Solon, und es er¬
schien den übrigen damals noch ganz in den alten strengen Grundsätzen sich
haltenden Griechen eigeuthümlich genug, als sie von dieser äolischen Frau ver¬
nahmen, die in einem Kreise junger befreundeter Mädchen lebte, dieselben in
der Poesie und Musik unterwies und in glühenden, zum Theil an die eigenen
Geschlechtsgenossinnen gerichteten Liebesgedichten ihre feurigsten wie ihre zarte¬
sten und innigsten Herzensregungen aussprach. Daß diese uns wie auch den
Zeitgenossen anderer Stämme befremdliche sinnliche Gluth und offen ausge¬
sprochene Leidenschaft nur auf entschuldbare Charaktereigenschaften des äolijchen
Stammes, auf die den Frauen desselben gewährte größere Freiheit und das
leicht zu entstammende Naturell der Dichterin, keineswegs aber auf verwerfliche
Motive zurückzuführen ist, können wir jetzt als sicher annehmen. Ihre eigenen
Zeitgenossen haben ihrem Charakter nicht den geringsten Makel angehängt, son¬
dern lassen im Gegentheil ihrer hohen dichterischen Begabung nicht minder als
ihrem Seelenadel und ihrer Sittenreinheit bewundernde Achtung zu Theil
werden, und erst die jüngere attische Komödie, die die Verunglimpfung zu
ihrem Geschäft machte, hat den Makel ans die größte Dichterin und eine der
vorzüglichsten Frauen des Alterthums geworfen, unter dem ihr Andenken bis
in die neue Zeit gelitten hat. Eine Erklärung dafür findet sich leicht in dem
originalen Naturell der Dichterin und in der Differenz zwischen athenischen
und äolischen Anschauungen über das weibliche Geschlecht.

Es herrschte in der Heimath der Sappho noch die größere gesellige Frei¬
heit, wie sie uns als Eigenheit des heroischen Zeitalters in den ebenfalls auf
äolischen Boden entkeimten epischen Gedichten entgegentritt. Die äolischen
Frauen durften nicht bloß an den Fortschritten der wissenschaftlichen und künst¬
lerischen Bildung, sondern auch am geselligen und öffentlichen Leben, am Ver¬
kehr mit Männern und an selbstgewählten Beschäftigungen weit mehr Antheil
nehmen, als bei irgend einem andern Stamme gestattet wurde. Das leichte,
feurige Naturell des Stammes, die geistige Regsamkeit und die Lust an geselli¬
ger Freude veranlaßte die Frauen, diese ihre Berechtigung rückhaltlos aufzu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/267>, abgerufen am 23.07.2024.