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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Götter, Kampfspiele und heitere Mahle vereinen die Männer, wenn sie nicht
auf Kriegszügen begriffen sind. Die Altäre rauchen, und Preislieder bringen
den olympischen Göttern für all den heiteren Segen den Dank des Volkes dar.

Ich mußte, obwohl ich mich dem Vorwurfe der Weitschweifigkeit aussetze,
dieses Bild vom allgemeinen Zustande der hellenischen Vorzeit entwerfen, weil
nur so die Stellung der Frauen in diesem bewegungs- und farbenreichen Leben,
zu deren Schilderung ich nun übergehen will, richtig gewürdigt werden kaun.

Indem ich von der Frage nach dem Alter der homerischen Gedichte hier
absehe, muß ich noch dem Einwände begegnen, daß die von Homer geschil¬
derten Zustände erdichtete, nicht geschichtliche sind.

Es ist selbstverständlich, daß die Thaten der Helden vor Troja wie die
Irrfahrten des Odysseus, wenn auch -- wie ich es annehme -- eine historische
Thatsache wenigstens dem ersteren Ereigniß zu Grunde liegt, durch die schöpfe¬
rische Phantasie des Dichters erweitert, ausgeschmückt, willkürlich behandelt
sind. Die Thaten, Reden und Erlebnisse' der Helden im Einzelnen sind gewiß
Phantasiegebilde des Dichters; die von Götterhänden geschmiedeten Waffen, die
Schätze in den Häusern der Fürsten, die kunstreichen Werke der Frauenhände
gewiß zum größten Theil wie das Schwert Balmung und die Tarnkappe
Siegfrieds nur kraft des Dichterwortes vorhanden. Aber was der Dichter
uns als geistiges Leben des Volkes vorführt, was er von Sitten, Anschauun¬
gen und inneren Zuständen sagt, ist gewiß den wirklichen Zuständen seiner
Zeit entnommen und spiegelt so gewiß die Wirklichkeit treuer als alle Ge¬
schichte wieder, wie die Intuition des poetischen Genies stets dem kalten Forscher¬
geist in Wahrheit der inneren Auffassung überlegen ist. Ob die in der Ilias
und Odyssee entrollten Gemälde wirklich die Zeit schildern, in welche man den
trojanischen Krieg verlegt, oder diejenige, in welcher die Gedichte entstanden
sind, kann uns hier gleichgiltig sein. Es kann dabei auf einige Jahrhunderte
nicht ankommen; genug daß, wie es die Griechen selbst stets anerkannt haben,
in jener Vorzeit, für uns der ältesten bekannten, wirklich die bei Homer ge¬
schilderten Zustände bestanden haben, also auch die aus ihm zu entnehmende
Stellung der Frauen eine historische ist.

Den Mittelpunkt der großen von Homer besungenen Begebenheiten bildet
eine Frau. Helena ist es, die Gemahlin des Menelaos, des Königs von Sparta,
um derentwillen die Fürsten und Völker Griechenlands sich sammeln und einen
zehnjährigen Kampf um die starke Feste der Troer führen. Diese Veranlassung
des Krieges ist ja -- ich wiederhole es -- mit höchster Wahrscheinlichkeit als
unhistorisch anzusehen; aber der Dichter hätte sich nicht erlauben dürfen einer
Frau diese Bedeutung inmitten der gewaltigen Heldenthaten anzuweisen, wenn
nicht die Auffassung seiner Zeit diese Bedeutung gerechtfertigt hätte. Im Volke


Götter, Kampfspiele und heitere Mahle vereinen die Männer, wenn sie nicht
auf Kriegszügen begriffen sind. Die Altäre rauchen, und Preislieder bringen
den olympischen Göttern für all den heiteren Segen den Dank des Volkes dar.

Ich mußte, obwohl ich mich dem Vorwurfe der Weitschweifigkeit aussetze,
dieses Bild vom allgemeinen Zustande der hellenischen Vorzeit entwerfen, weil
nur so die Stellung der Frauen in diesem bewegungs- und farbenreichen Leben,
zu deren Schilderung ich nun übergehen will, richtig gewürdigt werden kaun.

Indem ich von der Frage nach dem Alter der homerischen Gedichte hier
absehe, muß ich noch dem Einwände begegnen, daß die von Homer geschil¬
derten Zustände erdichtete, nicht geschichtliche sind.

Es ist selbstverständlich, daß die Thaten der Helden vor Troja wie die
Irrfahrten des Odysseus, wenn auch — wie ich es annehme — eine historische
Thatsache wenigstens dem ersteren Ereigniß zu Grunde liegt, durch die schöpfe¬
rische Phantasie des Dichters erweitert, ausgeschmückt, willkürlich behandelt
sind. Die Thaten, Reden und Erlebnisse' der Helden im Einzelnen sind gewiß
Phantasiegebilde des Dichters; die von Götterhänden geschmiedeten Waffen, die
Schätze in den Häusern der Fürsten, die kunstreichen Werke der Frauenhände
gewiß zum größten Theil wie das Schwert Balmung und die Tarnkappe
Siegfrieds nur kraft des Dichterwortes vorhanden. Aber was der Dichter
uns als geistiges Leben des Volkes vorführt, was er von Sitten, Anschauun¬
gen und inneren Zuständen sagt, ist gewiß den wirklichen Zuständen seiner
Zeit entnommen und spiegelt so gewiß die Wirklichkeit treuer als alle Ge¬
schichte wieder, wie die Intuition des poetischen Genies stets dem kalten Forscher¬
geist in Wahrheit der inneren Auffassung überlegen ist. Ob die in der Ilias
und Odyssee entrollten Gemälde wirklich die Zeit schildern, in welche man den
trojanischen Krieg verlegt, oder diejenige, in welcher die Gedichte entstanden
sind, kann uns hier gleichgiltig sein. Es kann dabei auf einige Jahrhunderte
nicht ankommen; genug daß, wie es die Griechen selbst stets anerkannt haben,
in jener Vorzeit, für uns der ältesten bekannten, wirklich die bei Homer ge¬
schilderten Zustände bestanden haben, also auch die aus ihm zu entnehmende
Stellung der Frauen eine historische ist.

Den Mittelpunkt der großen von Homer besungenen Begebenheiten bildet
eine Frau. Helena ist es, die Gemahlin des Menelaos, des Königs von Sparta,
um derentwillen die Fürsten und Völker Griechenlands sich sammeln und einen
zehnjährigen Kampf um die starke Feste der Troer führen. Diese Veranlassung
des Krieges ist ja — ich wiederhole es — mit höchster Wahrscheinlichkeit als
unhistorisch anzusehen; aber der Dichter hätte sich nicht erlauben dürfen einer
Frau diese Bedeutung inmitten der gewaltigen Heldenthaten anzuweisen, wenn
nicht die Auffassung seiner Zeit diese Bedeutung gerechtfertigt hätte. Im Volke


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[0208] Götter, Kampfspiele und heitere Mahle vereinen die Männer, wenn sie nicht auf Kriegszügen begriffen sind. Die Altäre rauchen, und Preislieder bringen den olympischen Göttern für all den heiteren Segen den Dank des Volkes dar. Ich mußte, obwohl ich mich dem Vorwurfe der Weitschweifigkeit aussetze, dieses Bild vom allgemeinen Zustande der hellenischen Vorzeit entwerfen, weil nur so die Stellung der Frauen in diesem bewegungs- und farbenreichen Leben, zu deren Schilderung ich nun übergehen will, richtig gewürdigt werden kaun. Indem ich von der Frage nach dem Alter der homerischen Gedichte hier absehe, muß ich noch dem Einwände begegnen, daß die von Homer geschil¬ derten Zustände erdichtete, nicht geschichtliche sind. Es ist selbstverständlich, daß die Thaten der Helden vor Troja wie die Irrfahrten des Odysseus, wenn auch — wie ich es annehme — eine historische Thatsache wenigstens dem ersteren Ereigniß zu Grunde liegt, durch die schöpfe¬ rische Phantasie des Dichters erweitert, ausgeschmückt, willkürlich behandelt sind. Die Thaten, Reden und Erlebnisse' der Helden im Einzelnen sind gewiß Phantasiegebilde des Dichters; die von Götterhänden geschmiedeten Waffen, die Schätze in den Häusern der Fürsten, die kunstreichen Werke der Frauenhände gewiß zum größten Theil wie das Schwert Balmung und die Tarnkappe Siegfrieds nur kraft des Dichterwortes vorhanden. Aber was der Dichter uns als geistiges Leben des Volkes vorführt, was er von Sitten, Anschauun¬ gen und inneren Zuständen sagt, ist gewiß den wirklichen Zuständen seiner Zeit entnommen und spiegelt so gewiß die Wirklichkeit treuer als alle Ge¬ schichte wieder, wie die Intuition des poetischen Genies stets dem kalten Forscher¬ geist in Wahrheit der inneren Auffassung überlegen ist. Ob die in der Ilias und Odyssee entrollten Gemälde wirklich die Zeit schildern, in welche man den trojanischen Krieg verlegt, oder diejenige, in welcher die Gedichte entstanden sind, kann uns hier gleichgiltig sein. Es kann dabei auf einige Jahrhunderte nicht ankommen; genug daß, wie es die Griechen selbst stets anerkannt haben, in jener Vorzeit, für uns der ältesten bekannten, wirklich die bei Homer ge¬ schilderten Zustände bestanden haben, also auch die aus ihm zu entnehmende Stellung der Frauen eine historische ist. Den Mittelpunkt der großen von Homer besungenen Begebenheiten bildet eine Frau. Helena ist es, die Gemahlin des Menelaos, des Königs von Sparta, um derentwillen die Fürsten und Völker Griechenlands sich sammeln und einen zehnjährigen Kampf um die starke Feste der Troer führen. Diese Veranlassung des Krieges ist ja — ich wiederhole es — mit höchster Wahrscheinlichkeit als unhistorisch anzusehen; aber der Dichter hätte sich nicht erlauben dürfen einer Frau diese Bedeutung inmitten der gewaltigen Heldenthaten anzuweisen, wenn nicht die Auffassung seiner Zeit diese Bedeutung gerechtfertigt hätte. Im Volke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/208>, abgerufen am 23.07.2024.