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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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und polnischen Festungen lagen circa 70,000 Mann. Waren die Franzosen
somit nahe und übermächtig, so waren die Russen noch ferne und schwach,
zählten sie doch selbst Ende April erst 50,000 Mann*). Diesen einfachen That¬
sachen gegenüber fallen alle früher so beliebten Borwürfe über die Schwäche
der Regierung in nichts zusammen. Das einzig Mögliche war: die Konvention
den Franzosen gegenüber zu verleugnen, sie thatsächlich jedoch anzunehmen,
und die Maßregeln, welche offiziell gegen Jork ergriffen werden mußten, nicht
zur Ausführung zu bringen. So geschah es. Noch am Abend des 4. Januar
konnte Se. Marsan nach Paris berichten: der König werde noch am nächsten
Tage den Oberstlieutenant Rechner an König Murat senden, dieser werde die
Entsetzung Aorks, die Ernennung des Generallieutenants v. Kleist an seiner
Statt, sammt dem Befehle an ihn, Aork zu verhaften und das Kontingent
unter das Kommando des Königs von Neapel zurückzuführen, ihm überbringen**).
Der Gesandte fügte hinzu: der König und der Staatskanzler "schienen ihm
ganz aufrichtig zu sein"; der erstere habe sich überdies über das Schicksal
Macdonalds sehr beunruhigt gezeigt.

Graf Se. Marsan hat sich nie durch Scharfblick ausgezeichnet, und auch
in diesem Falle berichtete er richtig nur über die äußeren Thatsachen, durch¬
aus falsch über die Gesinnungen. Jene Befehle an Kleist sammt einem könig¬
lichen Schreiben an König Murat empfing er allerdings, daneben aber in seiner
letzten Audienz beim König, der Hardenberg beiwohnte, im tiefsten Geheimniß
mündliche Aufträge, die den offiziellen schnurstracks entgegenliefen. Er sollte,
sobald er seines offiziellen Auftrags bei König Murat sich entledigt, nicht nach
Königsberg zu Jork, sondern direkt in das kaiserlich russische Hauptquartier
gehen und dort die ersten Fäden zu einem Bündnisse anknüpfen. Er hatte
dem Kaiser zu versichern: sobald die Russen die Weichsel überschritten, würde
der König nach Schlesien gehen und seinen Bund mit Rußland schließen; doch
möge dasselbe alle möglichen Rücksichten auf Oesterreich nehmen, diesem also
namentlich keine Gelegenheit zu dem Verdachte geben, Rußland beabsichtige
Polen für sich zu behalten; in Bezug auf das letztere sei es überhaupt wohl
am besten, wenn es die Gestalt von 1806 wieder erhalte; namentlich sei für
Preußen der Besitz Danzigs und Südpreußens unentbehrlich; Preußen und
Polen in Selbständigkeit neben einander zu halten sei jedenfalls unmöglich.
Zu seiner Beglaubigung erhielt Natzmer nur ein Stückchen Papier, auf welches
der König ein paar abgerißne Worte geschrieben***). Das alles bedeutete also:





*) Duncker 469 ff.
**) Droysen 397 f. Der Wortlaut des Schreibens von Se. Marsan bei Natzmer 89 f.
vgl. auch Häußer 44.
***) Ueber diese Sendung existirt ein kürzerer Bericht Natzmers, den derselbe für Droy¬
sen abfaßte (8. Juli 13S1), und ein ausführlicherer, wahrscheinlich das Konzept des nicht

und polnischen Festungen lagen circa 70,000 Mann. Waren die Franzosen
somit nahe und übermächtig, so waren die Russen noch ferne und schwach,
zählten sie doch selbst Ende April erst 50,000 Mann*). Diesen einfachen That¬
sachen gegenüber fallen alle früher so beliebten Borwürfe über die Schwäche
der Regierung in nichts zusammen. Das einzig Mögliche war: die Konvention
den Franzosen gegenüber zu verleugnen, sie thatsächlich jedoch anzunehmen,
und die Maßregeln, welche offiziell gegen Jork ergriffen werden mußten, nicht
zur Ausführung zu bringen. So geschah es. Noch am Abend des 4. Januar
konnte Se. Marsan nach Paris berichten: der König werde noch am nächsten
Tage den Oberstlieutenant Rechner an König Murat senden, dieser werde die
Entsetzung Aorks, die Ernennung des Generallieutenants v. Kleist an seiner
Statt, sammt dem Befehle an ihn, Aork zu verhaften und das Kontingent
unter das Kommando des Königs von Neapel zurückzuführen, ihm überbringen**).
Der Gesandte fügte hinzu: der König und der Staatskanzler „schienen ihm
ganz aufrichtig zu sein"; der erstere habe sich überdies über das Schicksal
Macdonalds sehr beunruhigt gezeigt.

Graf Se. Marsan hat sich nie durch Scharfblick ausgezeichnet, und auch
in diesem Falle berichtete er richtig nur über die äußeren Thatsachen, durch¬
aus falsch über die Gesinnungen. Jene Befehle an Kleist sammt einem könig¬
lichen Schreiben an König Murat empfing er allerdings, daneben aber in seiner
letzten Audienz beim König, der Hardenberg beiwohnte, im tiefsten Geheimniß
mündliche Aufträge, die den offiziellen schnurstracks entgegenliefen. Er sollte,
sobald er seines offiziellen Auftrags bei König Murat sich entledigt, nicht nach
Königsberg zu Jork, sondern direkt in das kaiserlich russische Hauptquartier
gehen und dort die ersten Fäden zu einem Bündnisse anknüpfen. Er hatte
dem Kaiser zu versichern: sobald die Russen die Weichsel überschritten, würde
der König nach Schlesien gehen und seinen Bund mit Rußland schließen; doch
möge dasselbe alle möglichen Rücksichten auf Oesterreich nehmen, diesem also
namentlich keine Gelegenheit zu dem Verdachte geben, Rußland beabsichtige
Polen für sich zu behalten; in Bezug auf das letztere sei es überhaupt wohl
am besten, wenn es die Gestalt von 1806 wieder erhalte; namentlich sei für
Preußen der Besitz Danzigs und Südpreußens unentbehrlich; Preußen und
Polen in Selbständigkeit neben einander zu halten sei jedenfalls unmöglich.
Zu seiner Beglaubigung erhielt Natzmer nur ein Stückchen Papier, auf welches
der König ein paar abgerißne Worte geschrieben***). Das alles bedeutete also:





*) Duncker 469 ff.
**) Droysen 397 f. Der Wortlaut des Schreibens von Se. Marsan bei Natzmer 89 f.
vgl. auch Häußer 44.
***) Ueber diese Sendung existirt ein kürzerer Bericht Natzmers, den derselbe für Droy¬
sen abfaßte (8. Juli 13S1), und ein ausführlicherer, wahrscheinlich das Konzept des nicht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/17>, abgerufen am 03.07.2024.