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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Feigenbaum, der später unter dem Namen Bodhidruma, "Baum der Erkennt¬
niß", religiöse Verehrung genoß, zu sitzen und oft, in tiefem Sinnen versunken,
ganze Tage seine Stellung nicht zu ändern. Er löste hier die Aufgabe, die
er sich gestellt, und gründete damit eine neue Religion, falls wir eine Lehre,
die keine eigentlichen Dogmen und keinen Kultus kennt, Religion nennen
dürfen. Diese Lehre spricht sich in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht über
Gott aus, sondern hat es nur mit der Idee des sittlich Guten und ihrer An¬
wendung im Leben zu thun. Beide sind nach ihr dem menschlichen Bewußt¬
sein inhärent und nur durch die bramanischen Einrichtungen verkehrt und ver¬
dunkelt worden. Der Einsiedler von Uruwilwa stellte sie wieder in ihrer
Reinheit her. Alle Menschen sind nach dessen Anschauung gleich, alle berufen,
dasselbe Heil zu erreichen und sich ans demselben Wege zur Erlösung zu ver¬
helfen, die sie dem Schmerz und Elend der Welt entreißt und sie endgültig
aus dem ewigen Kreislauf der Seelenwanderung heraustreten läßt. Deshalb
haben sie die Pflicht, sich als Brüder zu begegnen, keine tadelnswerthe Hand¬
lung zu begehen, die Tugend zu üben, ihre Neigungen zu beherrschen, kurz,
mit allen Kräften nach moralischer und intellektueller Vollkommenheit z"
streben, welche der Ausdruck Bodhi, "höchste Erkenntniß", zusammenfaßt. Wer
streng und unverwandten Blickes nach dieser Lehre lebt, wird Buddha und ge¬
langt nach seinem Tode zu jenem Nirwana, welches das Endziel alles
buddhistische" Strebens ist.

Eines Tages, als sich Ssakjamuni vollkommen klar geworden war, glaubte
er sich selbst antworten zu können: "Ja, ich habe ihn endlich gefunden, den
starken Weg des großen Menschen, den Weg des Opfers der Sinne, den Weg
ohne Aufgabe, ohne Neid, ohne Unwissenheit und ohne Leidenschaft, den Weg,
der zur Erlösung führt und bewirkt, daß die Orte der Seelenwanderung keine
Orte sind, den Weg, der über Ssakra, Brama und Maheßwara (die bramanische
Dreieinigkeit) und die Wächter der Welt hinausgeht, den stillen, von Aufregung
freien, der Furcht vor dem Dämon entrückten Weg, der zum Nirwana leitet"
-- kurz, der Einsiedler von Uruwilwa war sich in diesem feierlichen Augen¬
blicke bewußt, daß er der vollendete Buddha, der Weise in seiner ganzen
Reinheit und Größe, in seiner übermenschlichen, ja mehr als göttlichen Macht
el, von dem schon die alte Bramanenschule des Sanchia geträumt hatte.
"Ja", rief er dann aus, "so werde ich dem Weltschmerz ein Ende machen!"
Und indem er mit der Hand auf die Erde schlug, setzte er hinzu: "Diese Erde
sei mir Zeuge, sie ist die Wohnung aller Geschöpfe, sie schließt alles ein, was
beweglich und unbeweglich ist, sie ist unparteiisch, sie bezeuge mir, daß ich
nicht lüge".

Ssakjamuni war damals sechsunddreißig Jahre alt, und es war das Jahr


Feigenbaum, der später unter dem Namen Bodhidruma, „Baum der Erkennt¬
niß", religiöse Verehrung genoß, zu sitzen und oft, in tiefem Sinnen versunken,
ganze Tage seine Stellung nicht zu ändern. Er löste hier die Aufgabe, die
er sich gestellt, und gründete damit eine neue Religion, falls wir eine Lehre,
die keine eigentlichen Dogmen und keinen Kultus kennt, Religion nennen
dürfen. Diese Lehre spricht sich in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht über
Gott aus, sondern hat es nur mit der Idee des sittlich Guten und ihrer An¬
wendung im Leben zu thun. Beide sind nach ihr dem menschlichen Bewußt¬
sein inhärent und nur durch die bramanischen Einrichtungen verkehrt und ver¬
dunkelt worden. Der Einsiedler von Uruwilwa stellte sie wieder in ihrer
Reinheit her. Alle Menschen sind nach dessen Anschauung gleich, alle berufen,
dasselbe Heil zu erreichen und sich ans demselben Wege zur Erlösung zu ver¬
helfen, die sie dem Schmerz und Elend der Welt entreißt und sie endgültig
aus dem ewigen Kreislauf der Seelenwanderung heraustreten läßt. Deshalb
haben sie die Pflicht, sich als Brüder zu begegnen, keine tadelnswerthe Hand¬
lung zu begehen, die Tugend zu üben, ihre Neigungen zu beherrschen, kurz,
mit allen Kräften nach moralischer und intellektueller Vollkommenheit z»
streben, welche der Ausdruck Bodhi, „höchste Erkenntniß", zusammenfaßt. Wer
streng und unverwandten Blickes nach dieser Lehre lebt, wird Buddha und ge¬
langt nach seinem Tode zu jenem Nirwana, welches das Endziel alles
buddhistische» Strebens ist.

Eines Tages, als sich Ssakjamuni vollkommen klar geworden war, glaubte
er sich selbst antworten zu können: „Ja, ich habe ihn endlich gefunden, den
starken Weg des großen Menschen, den Weg des Opfers der Sinne, den Weg
ohne Aufgabe, ohne Neid, ohne Unwissenheit und ohne Leidenschaft, den Weg,
der zur Erlösung führt und bewirkt, daß die Orte der Seelenwanderung keine
Orte sind, den Weg, der über Ssakra, Brama und Maheßwara (die bramanische
Dreieinigkeit) und die Wächter der Welt hinausgeht, den stillen, von Aufregung
freien, der Furcht vor dem Dämon entrückten Weg, der zum Nirwana leitet"
— kurz, der Einsiedler von Uruwilwa war sich in diesem feierlichen Augen¬
blicke bewußt, daß er der vollendete Buddha, der Weise in seiner ganzen
Reinheit und Größe, in seiner übermenschlichen, ja mehr als göttlichen Macht
el, von dem schon die alte Bramanenschule des Sanchia geträumt hatte.
„Ja", rief er dann aus, „so werde ich dem Weltschmerz ein Ende machen!"
Und indem er mit der Hand auf die Erde schlug, setzte er hinzu: „Diese Erde
sei mir Zeuge, sie ist die Wohnung aller Geschöpfe, sie schließt alles ein, was
beweglich und unbeweglich ist, sie ist unparteiisch, sie bezeuge mir, daß ich
nicht lüge".

Ssakjamuni war damals sechsunddreißig Jahre alt, und es war das Jahr


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[0140] Feigenbaum, der später unter dem Namen Bodhidruma, „Baum der Erkennt¬ niß", religiöse Verehrung genoß, zu sitzen und oft, in tiefem Sinnen versunken, ganze Tage seine Stellung nicht zu ändern. Er löste hier die Aufgabe, die er sich gestellt, und gründete damit eine neue Religion, falls wir eine Lehre, die keine eigentlichen Dogmen und keinen Kultus kennt, Religion nennen dürfen. Diese Lehre spricht sich in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht über Gott aus, sondern hat es nur mit der Idee des sittlich Guten und ihrer An¬ wendung im Leben zu thun. Beide sind nach ihr dem menschlichen Bewußt¬ sein inhärent und nur durch die bramanischen Einrichtungen verkehrt und ver¬ dunkelt worden. Der Einsiedler von Uruwilwa stellte sie wieder in ihrer Reinheit her. Alle Menschen sind nach dessen Anschauung gleich, alle berufen, dasselbe Heil zu erreichen und sich ans demselben Wege zur Erlösung zu ver¬ helfen, die sie dem Schmerz und Elend der Welt entreißt und sie endgültig aus dem ewigen Kreislauf der Seelenwanderung heraustreten läßt. Deshalb haben sie die Pflicht, sich als Brüder zu begegnen, keine tadelnswerthe Hand¬ lung zu begehen, die Tugend zu üben, ihre Neigungen zu beherrschen, kurz, mit allen Kräften nach moralischer und intellektueller Vollkommenheit z» streben, welche der Ausdruck Bodhi, „höchste Erkenntniß", zusammenfaßt. Wer streng und unverwandten Blickes nach dieser Lehre lebt, wird Buddha und ge¬ langt nach seinem Tode zu jenem Nirwana, welches das Endziel alles buddhistische» Strebens ist. Eines Tages, als sich Ssakjamuni vollkommen klar geworden war, glaubte er sich selbst antworten zu können: „Ja, ich habe ihn endlich gefunden, den starken Weg des großen Menschen, den Weg des Opfers der Sinne, den Weg ohne Aufgabe, ohne Neid, ohne Unwissenheit und ohne Leidenschaft, den Weg, der zur Erlösung führt und bewirkt, daß die Orte der Seelenwanderung keine Orte sind, den Weg, der über Ssakra, Brama und Maheßwara (die bramanische Dreieinigkeit) und die Wächter der Welt hinausgeht, den stillen, von Aufregung freien, der Furcht vor dem Dämon entrückten Weg, der zum Nirwana leitet" — kurz, der Einsiedler von Uruwilwa war sich in diesem feierlichen Augen¬ blicke bewußt, daß er der vollendete Buddha, der Weise in seiner ganzen Reinheit und Größe, in seiner übermenschlichen, ja mehr als göttlichen Macht el, von dem schon die alte Bramanenschule des Sanchia geträumt hatte. „Ja", rief er dann aus, „so werde ich dem Weltschmerz ein Ende machen!" Und indem er mit der Hand auf die Erde schlug, setzte er hinzu: „Diese Erde sei mir Zeuge, sie ist die Wohnung aller Geschöpfe, sie schließt alles ein, was beweglich und unbeweglich ist, sie ist unparteiisch, sie bezeuge mir, daß ich nicht lüge". Ssakjamuni war damals sechsunddreißig Jahre alt, und es war das Jahr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/140>, abgerufen am 23.07.2024.