Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Scheidung für Rußland kaum erfolgt. Denn am 30. Dezember ging bei
Hardenberg ein Brief des Obersten von Boyen, der im Frühjahr den preußischen
Dienst verlassen und nach Petersburg gegangen war, ein (datirt Radzivilov
8. Dezember). Der Oberst hatte zweimal, vor und nach dem Brande von
Moskau, Audienzen bei Kaiser Alexander gehabt, und von diesem ebensowohl
seinen festen Entschluß, Napoleon bis aufs äußerste zu bekämpfen und Preußen
in seinem alten Umfange wieder herzustellen, falls dies sich ihm anschließe,
vernommen, als auch seiue Drohung, im entgegengesetzten Falle an einer
Theilung Preußens sich betheiligen zu wollen*). Das war eine Konsequenz
der Verabredungen, welche am 27. August 1812 der Kaiser mit dem Kron¬
prinzen in Schweden zu Abo getroffen. Er war damals bereit, entsprechend
den Festsetzungen des Vertrags von Petersburg (5. April), Schweden zur Er¬
werbung Norwegens zu verhelfen, wollte dagegen aber seine Unterstützung zur
Ausdehnung des russischen Gebietes bis zur Weichsel, d. h. also zur Annexion
des schon von Elisabeth sechs Jahre hindurch beherrschten Ostpreußens, das
den Besitz Polens, auf den der Zar nicht zu verzichten gesonnen war, aufs
trefflichste abgerundet hätte**). Diese Pläne entsprachen ganz den Ansichten
der altrussischen Partei, welche in der Umgebung des Kaisers stark vertreten
war; sie haben dann selbst zu einer vorübergehenden Besitzergreifung Memels
geführt***). Waren nun auch in Berlin jene Abmachungen in Abo unbekannt,
von den Anschauungen der Altrussen wußte man genug, und jener Brief Boyens
mußte die Befürchtungen in dieser Richtung nur verstärken; sie konnten auch
durch die sonst mitgetheilte Aeußerung des Zaren nicht völlig paralysirt werden,
denn eben in diesem Moment war Preußen nicht in der Lage, den Forderungen
Alexanders auf Anschluß zu entsprechen.

Da traf zum Glück am 2. Januar 1813 Graf Henkel aus dem Yorkschen
Hauptquartiere ein. Er überbrachte ein Schreiben des Generals vom 27. De¬
zember, welches ausführte, daß er, getrennt und im Stiche gelassen von Mac¬
donald, sich zu einer Konvention mit den Russen werde verstehen müssen;
diesem in Abschrift beigelegt war ein Brief des Zaren an Paulucci vom
18. Dezember, den dieser an Dorr gesandt hatte: in den bindendsten Aus¬
drücken versicherte der Kaiser, daß er nicht eher Friede machen werde, als bis
Preußen in seinem Umfange von 1806 wiederhergestellt seis). So überraschend
diese Nachrichten zunächst wirkten, so wenig ließ sich doch verkennen, einmal






*) Hardenberg - Ranke IV.
**
) a, a, O. 322 ff.
Ueber diese Drousen I' 402 f. Ueber die altrussischen Anschauungen s- Hauß"
IV " 24 f.'
f) Droysen I, 341. 347 vgl. Häußer IV- 43.

Scheidung für Rußland kaum erfolgt. Denn am 30. Dezember ging bei
Hardenberg ein Brief des Obersten von Boyen, der im Frühjahr den preußischen
Dienst verlassen und nach Petersburg gegangen war, ein (datirt Radzivilov
8. Dezember). Der Oberst hatte zweimal, vor und nach dem Brande von
Moskau, Audienzen bei Kaiser Alexander gehabt, und von diesem ebensowohl
seinen festen Entschluß, Napoleon bis aufs äußerste zu bekämpfen und Preußen
in seinem alten Umfange wieder herzustellen, falls dies sich ihm anschließe,
vernommen, als auch seiue Drohung, im entgegengesetzten Falle an einer
Theilung Preußens sich betheiligen zu wollen*). Das war eine Konsequenz
der Verabredungen, welche am 27. August 1812 der Kaiser mit dem Kron¬
prinzen in Schweden zu Abo getroffen. Er war damals bereit, entsprechend
den Festsetzungen des Vertrags von Petersburg (5. April), Schweden zur Er¬
werbung Norwegens zu verhelfen, wollte dagegen aber seine Unterstützung zur
Ausdehnung des russischen Gebietes bis zur Weichsel, d. h. also zur Annexion
des schon von Elisabeth sechs Jahre hindurch beherrschten Ostpreußens, das
den Besitz Polens, auf den der Zar nicht zu verzichten gesonnen war, aufs
trefflichste abgerundet hätte**). Diese Pläne entsprachen ganz den Ansichten
der altrussischen Partei, welche in der Umgebung des Kaisers stark vertreten
war; sie haben dann selbst zu einer vorübergehenden Besitzergreifung Memels
geführt***). Waren nun auch in Berlin jene Abmachungen in Abo unbekannt,
von den Anschauungen der Altrussen wußte man genug, und jener Brief Boyens
mußte die Befürchtungen in dieser Richtung nur verstärken; sie konnten auch
durch die sonst mitgetheilte Aeußerung des Zaren nicht völlig paralysirt werden,
denn eben in diesem Moment war Preußen nicht in der Lage, den Forderungen
Alexanders auf Anschluß zu entsprechen.

Da traf zum Glück am 2. Januar 1813 Graf Henkel aus dem Yorkschen
Hauptquartiere ein. Er überbrachte ein Schreiben des Generals vom 27. De¬
zember, welches ausführte, daß er, getrennt und im Stiche gelassen von Mac¬
donald, sich zu einer Konvention mit den Russen werde verstehen müssen;
diesem in Abschrift beigelegt war ein Brief des Zaren an Paulucci vom
18. Dezember, den dieser an Dorr gesandt hatte: in den bindendsten Aus¬
drücken versicherte der Kaiser, daß er nicht eher Friede machen werde, als bis
Preußen in seinem Umfange von 1806 wiederhergestellt seis). So überraschend
diese Nachrichten zunächst wirkten, so wenig ließ sich doch verkennen, einmal






*) Hardenberg - Ranke IV.
**
) a, a, O. 322 ff.
Ueber diese Drousen I' 402 f. Ueber die altrussischen Anschauungen s- Hauß«
IV » 24 f.'
f) Droysen I, 341. 347 vgl. Häußer IV- 43.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137715"/>
          <p xml:id="ID_21" prev="#ID_20"> Scheidung für Rußland kaum erfolgt. Denn am 30. Dezember ging bei<lb/>
Hardenberg ein Brief des Obersten von Boyen, der im Frühjahr den preußischen<lb/>
Dienst verlassen und nach Petersburg gegangen war, ein (datirt Radzivilov<lb/>
8. Dezember). Der Oberst hatte zweimal, vor und nach dem Brande von<lb/>
Moskau, Audienzen bei Kaiser Alexander gehabt, und von diesem ebensowohl<lb/>
seinen festen Entschluß, Napoleon bis aufs äußerste zu bekämpfen und Preußen<lb/>
in seinem alten Umfange wieder herzustellen, falls dies sich ihm anschließe,<lb/>
vernommen, als auch seiue Drohung, im entgegengesetzten Falle an einer<lb/>
Theilung Preußens sich betheiligen zu wollen*). Das war eine Konsequenz<lb/>
der Verabredungen, welche am 27. August 1812 der Kaiser mit dem Kron¬<lb/>
prinzen in Schweden zu Abo getroffen. Er war damals bereit, entsprechend<lb/>
den Festsetzungen des Vertrags von Petersburg (5. April), Schweden zur Er¬<lb/>
werbung Norwegens zu verhelfen, wollte dagegen aber seine Unterstützung zur<lb/>
Ausdehnung des russischen Gebietes bis zur Weichsel, d. h. also zur Annexion<lb/>
des schon von Elisabeth sechs Jahre hindurch beherrschten Ostpreußens, das<lb/>
den Besitz Polens, auf den der Zar nicht zu verzichten gesonnen war, aufs<lb/>
trefflichste abgerundet hätte**). Diese Pläne entsprachen ganz den Ansichten<lb/>
der altrussischen Partei, welche in der Umgebung des Kaisers stark vertreten<lb/>
war; sie haben dann selbst zu einer vorübergehenden Besitzergreifung Memels<lb/>
geführt***). Waren nun auch in Berlin jene Abmachungen in Abo unbekannt,<lb/>
von den Anschauungen der Altrussen wußte man genug, und jener Brief Boyens<lb/>
mußte die Befürchtungen in dieser Richtung nur verstärken; sie konnten auch<lb/>
durch die sonst mitgetheilte Aeußerung des Zaren nicht völlig paralysirt werden,<lb/>
denn eben in diesem Moment war Preußen nicht in der Lage, den Forderungen<lb/>
Alexanders auf Anschluß zu entsprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_22" next="#ID_23"> Da traf zum Glück am 2. Januar 1813 Graf Henkel aus dem Yorkschen<lb/>
Hauptquartiere ein. Er überbrachte ein Schreiben des Generals vom 27. De¬<lb/>
zember, welches ausführte, daß er, getrennt und im Stiche gelassen von Mac¬<lb/>
donald, sich zu einer Konvention mit den Russen werde verstehen müssen;<lb/>
diesem in Abschrift beigelegt war ein Brief des Zaren an Paulucci vom<lb/>
18. Dezember, den dieser an Dorr gesandt hatte: in den bindendsten Aus¬<lb/>
drücken versicherte der Kaiser, daß er nicht eher Friede machen werde, als bis<lb/>
Preußen in seinem Umfange von 1806 wiederhergestellt seis). So überraschend<lb/>
diese Nachrichten zunächst wirkten, so wenig ließ sich doch verkennen, einmal</p><lb/>
          <note xml:id="FID_28" place="foot"> *) Hardenberg - Ranke IV.<lb/>
**</note><lb/>
          <note xml:id="FID_29" place="foot"> ) a, a, O. 322 ff.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_30" place="foot"> Ueber diese Drousen I' 402 f.  Ueber die altrussischen Anschauungen s- Hauß«<lb/>
IV » 24 f.'</note><lb/>
          <note xml:id="FID_31" place="foot"> f) Droysen I, 341. 347  vgl. Häußer IV- 43.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Scheidung für Rußland kaum erfolgt. Denn am 30. Dezember ging bei Hardenberg ein Brief des Obersten von Boyen, der im Frühjahr den preußischen Dienst verlassen und nach Petersburg gegangen war, ein (datirt Radzivilov 8. Dezember). Der Oberst hatte zweimal, vor und nach dem Brande von Moskau, Audienzen bei Kaiser Alexander gehabt, und von diesem ebensowohl seinen festen Entschluß, Napoleon bis aufs äußerste zu bekämpfen und Preußen in seinem alten Umfange wieder herzustellen, falls dies sich ihm anschließe, vernommen, als auch seiue Drohung, im entgegengesetzten Falle an einer Theilung Preußens sich betheiligen zu wollen*). Das war eine Konsequenz der Verabredungen, welche am 27. August 1812 der Kaiser mit dem Kron¬ prinzen in Schweden zu Abo getroffen. Er war damals bereit, entsprechend den Festsetzungen des Vertrags von Petersburg (5. April), Schweden zur Er¬ werbung Norwegens zu verhelfen, wollte dagegen aber seine Unterstützung zur Ausdehnung des russischen Gebietes bis zur Weichsel, d. h. also zur Annexion des schon von Elisabeth sechs Jahre hindurch beherrschten Ostpreußens, das den Besitz Polens, auf den der Zar nicht zu verzichten gesonnen war, aufs trefflichste abgerundet hätte**). Diese Pläne entsprachen ganz den Ansichten der altrussischen Partei, welche in der Umgebung des Kaisers stark vertreten war; sie haben dann selbst zu einer vorübergehenden Besitzergreifung Memels geführt***). Waren nun auch in Berlin jene Abmachungen in Abo unbekannt, von den Anschauungen der Altrussen wußte man genug, und jener Brief Boyens mußte die Befürchtungen in dieser Richtung nur verstärken; sie konnten auch durch die sonst mitgetheilte Aeußerung des Zaren nicht völlig paralysirt werden, denn eben in diesem Moment war Preußen nicht in der Lage, den Forderungen Alexanders auf Anschluß zu entsprechen. Da traf zum Glück am 2. Januar 1813 Graf Henkel aus dem Yorkschen Hauptquartiere ein. Er überbrachte ein Schreiben des Generals vom 27. De¬ zember, welches ausführte, daß er, getrennt und im Stiche gelassen von Mac¬ donald, sich zu einer Konvention mit den Russen werde verstehen müssen; diesem in Abschrift beigelegt war ein Brief des Zaren an Paulucci vom 18. Dezember, den dieser an Dorr gesandt hatte: in den bindendsten Aus¬ drücken versicherte der Kaiser, daß er nicht eher Friede machen werde, als bis Preußen in seinem Umfange von 1806 wiederhergestellt seis). So überraschend diese Nachrichten zunächst wirkten, so wenig ließ sich doch verkennen, einmal *) Hardenberg - Ranke IV. ** ) a, a, O. 322 ff. Ueber diese Drousen I' 402 f. Ueber die altrussischen Anschauungen s- Hauß« IV » 24 f.' f) Droysen I, 341. 347 vgl. Häußer IV- 43.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/14>, abgerufen am 03.07.2024.