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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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"Das Streben der kurialistischen Politik, sich als Staat im Staate zu
konstituiren, hat gerade so lange Aussicht auf Erfolg, als der Staatsbegriff
ein lockerer ist. Das ist aber in Europa nirgends so sehr als in Belgien und
dem während der Verbindung mit Belgien seiner alten nationalen Grundlage
beraubten Holland der Fall. Das Wort Freiheit hört man in allen Tonarten,
aber es bedeutet nur das Gelüste, sich gehen zu lassen und durch niemand
genirt zu werden. Eine solche Gene, wie sie die allgemeine Wehrpflicht und
die allgemeine Schulpflicht jedem Staatsbürger auferlegen, wird von der herr¬
schenden Plutvkratie mehr als alles Andere gefürchtet. So lange aber dieses
Abe des modernen Staates fehlt, so lange wird Verlotterung und Schlendrian
fortgehen, und so lange wird auch die deu Staat zersetzende römische Maschinerie
ungestört ihre Fäden weiterspinnen."

Dasselbe gilt von dem nirgends so arg wie in Holland grassirenden
Schacher der politischen Parteien mit dem Ultramontanismus, welcher heute der,
morgen jener seine Stimme um Zugeständnisse zu seinein Vortheil ver¬
kauft. Liberale, Konservative und Antirevolntionäre sind in ihrer heutigen
Organisation haltlos und darum zu den prinziplosesten Kompromissen geneigt.

"Zu den Liberalen zählt allerdings die große Mehrheit der Gebildeten.
Sie haben das Erbe der alten glorreichen Entwickelung der Generalstaaten an¬
getreten. Aber welche Aussichten kann eine Partei haben, bei welcher, der
politische Selbstmord endemisch geworden ist, und die vor lauter sich gegen¬
seitig aufreibenden Kliqueu nicht zum Bewußtsein gemeinsamer Grundgedanken
kommt? Es fehlt dem holländischen Liberalismus nicht sowohl an sozialem
Einfluß oder an Intelligenz, als vielmehr an der ernsten Selbstzucht, die sich
zuerst der Pflichten und dann erst der Rechte bewußt ist. Daher in seinen:
Lager noch immer eine solche Fülle von unfruchtbarem Doktrinarismus, welcher
der anders gearteten deutschen Entwickelung gegenüber ein wahrhaft pharisäisches
Selbstgefühl an den Tag legt. Daher die den gemeinsamen Prinzipien immer
wieder in den Weg tretenden mancherlei Privatinteressen, denen die Organe
der einzelnen Führer und Faktionen zu dienen haben. Daher endlich die
eines freie" Volkes geradezu unwürdige Annexionsfurcht, welche mehr als
"lies Andere dem klerikalen Centrum liberale Plänkler zuführt."

Noch schwerer als bei deu Liberalen ist es bei den Konservativen, ihre
leitenden Grundsätze aus dem Chaos ihres Kliquenwesens herauszufinden. Es
'se ein Irrthum, wenn man in ihnen die altoranische Partei erblickt und bei
ihr ähnliche Sympathien wie bei der oranischen Politik voraussetzt. "Selbst
der ausgeprägteste Widerwille gegen die knappe, straffe Art des preußischen
StaaMwesens, wie ihn der Astartekult der Freiheitsphrase von Zuk zu Zeit in
der Nieuwe Arnhemsche Courant kundzugeben pflegt, ist nicht entfernt mit


„Das Streben der kurialistischen Politik, sich als Staat im Staate zu
konstituiren, hat gerade so lange Aussicht auf Erfolg, als der Staatsbegriff
ein lockerer ist. Das ist aber in Europa nirgends so sehr als in Belgien und
dem während der Verbindung mit Belgien seiner alten nationalen Grundlage
beraubten Holland der Fall. Das Wort Freiheit hört man in allen Tonarten,
aber es bedeutet nur das Gelüste, sich gehen zu lassen und durch niemand
genirt zu werden. Eine solche Gene, wie sie die allgemeine Wehrpflicht und
die allgemeine Schulpflicht jedem Staatsbürger auferlegen, wird von der herr¬
schenden Plutvkratie mehr als alles Andere gefürchtet. So lange aber dieses
Abe des modernen Staates fehlt, so lange wird Verlotterung und Schlendrian
fortgehen, und so lange wird auch die deu Staat zersetzende römische Maschinerie
ungestört ihre Fäden weiterspinnen."

Dasselbe gilt von dem nirgends so arg wie in Holland grassirenden
Schacher der politischen Parteien mit dem Ultramontanismus, welcher heute der,
morgen jener seine Stimme um Zugeständnisse zu seinein Vortheil ver¬
kauft. Liberale, Konservative und Antirevolntionäre sind in ihrer heutigen
Organisation haltlos und darum zu den prinziplosesten Kompromissen geneigt.

„Zu den Liberalen zählt allerdings die große Mehrheit der Gebildeten.
Sie haben das Erbe der alten glorreichen Entwickelung der Generalstaaten an¬
getreten. Aber welche Aussichten kann eine Partei haben, bei welcher, der
politische Selbstmord endemisch geworden ist, und die vor lauter sich gegen¬
seitig aufreibenden Kliqueu nicht zum Bewußtsein gemeinsamer Grundgedanken
kommt? Es fehlt dem holländischen Liberalismus nicht sowohl an sozialem
Einfluß oder an Intelligenz, als vielmehr an der ernsten Selbstzucht, die sich
zuerst der Pflichten und dann erst der Rechte bewußt ist. Daher in seinen:
Lager noch immer eine solche Fülle von unfruchtbarem Doktrinarismus, welcher
der anders gearteten deutschen Entwickelung gegenüber ein wahrhaft pharisäisches
Selbstgefühl an den Tag legt. Daher die den gemeinsamen Prinzipien immer
wieder in den Weg tretenden mancherlei Privatinteressen, denen die Organe
der einzelnen Führer und Faktionen zu dienen haben. Daher endlich die
eines freie» Volkes geradezu unwürdige Annexionsfurcht, welche mehr als
"lies Andere dem klerikalen Centrum liberale Plänkler zuführt."

Noch schwerer als bei deu Liberalen ist es bei den Konservativen, ihre
leitenden Grundsätze aus dem Chaos ihres Kliquenwesens herauszufinden. Es
'se ein Irrthum, wenn man in ihnen die altoranische Partei erblickt und bei
ihr ähnliche Sympathien wie bei der oranischen Politik voraussetzt. „Selbst
der ausgeprägteste Widerwille gegen die knappe, straffe Art des preußischen
StaaMwesens, wie ihn der Astartekult der Freiheitsphrase von Zuk zu Zeit in
der Nieuwe Arnhemsche Courant kundzugeben pflegt, ist nicht entfernt mit


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[0105] „Das Streben der kurialistischen Politik, sich als Staat im Staate zu konstituiren, hat gerade so lange Aussicht auf Erfolg, als der Staatsbegriff ein lockerer ist. Das ist aber in Europa nirgends so sehr als in Belgien und dem während der Verbindung mit Belgien seiner alten nationalen Grundlage beraubten Holland der Fall. Das Wort Freiheit hört man in allen Tonarten, aber es bedeutet nur das Gelüste, sich gehen zu lassen und durch niemand genirt zu werden. Eine solche Gene, wie sie die allgemeine Wehrpflicht und die allgemeine Schulpflicht jedem Staatsbürger auferlegen, wird von der herr¬ schenden Plutvkratie mehr als alles Andere gefürchtet. So lange aber dieses Abe des modernen Staates fehlt, so lange wird Verlotterung und Schlendrian fortgehen, und so lange wird auch die deu Staat zersetzende römische Maschinerie ungestört ihre Fäden weiterspinnen." Dasselbe gilt von dem nirgends so arg wie in Holland grassirenden Schacher der politischen Parteien mit dem Ultramontanismus, welcher heute der, morgen jener seine Stimme um Zugeständnisse zu seinein Vortheil ver¬ kauft. Liberale, Konservative und Antirevolntionäre sind in ihrer heutigen Organisation haltlos und darum zu den prinziplosesten Kompromissen geneigt. „Zu den Liberalen zählt allerdings die große Mehrheit der Gebildeten. Sie haben das Erbe der alten glorreichen Entwickelung der Generalstaaten an¬ getreten. Aber welche Aussichten kann eine Partei haben, bei welcher, der politische Selbstmord endemisch geworden ist, und die vor lauter sich gegen¬ seitig aufreibenden Kliqueu nicht zum Bewußtsein gemeinsamer Grundgedanken kommt? Es fehlt dem holländischen Liberalismus nicht sowohl an sozialem Einfluß oder an Intelligenz, als vielmehr an der ernsten Selbstzucht, die sich zuerst der Pflichten und dann erst der Rechte bewußt ist. Daher in seinen: Lager noch immer eine solche Fülle von unfruchtbarem Doktrinarismus, welcher der anders gearteten deutschen Entwickelung gegenüber ein wahrhaft pharisäisches Selbstgefühl an den Tag legt. Daher die den gemeinsamen Prinzipien immer wieder in den Weg tretenden mancherlei Privatinteressen, denen die Organe der einzelnen Führer und Faktionen zu dienen haben. Daher endlich die eines freie» Volkes geradezu unwürdige Annexionsfurcht, welche mehr als "lies Andere dem klerikalen Centrum liberale Plänkler zuführt." Noch schwerer als bei deu Liberalen ist es bei den Konservativen, ihre leitenden Grundsätze aus dem Chaos ihres Kliquenwesens herauszufinden. Es 'se ein Irrthum, wenn man in ihnen die altoranische Partei erblickt und bei ihr ähnliche Sympathien wie bei der oranischen Politik voraussetzt. „Selbst der ausgeprägteste Widerwille gegen die knappe, straffe Art des preußischen StaaMwesens, wie ihn der Astartekult der Freiheitsphrase von Zuk zu Zeit in der Nieuwe Arnhemsche Courant kundzugeben pflegt, ist nicht entfernt mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/105>, abgerufen am 01.10.2024.