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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Turkestans noch zu kämpfen hat. Wie wichtig ist also eine Aenderung zum
Bessern! --

Werfen wir nun einen Blick ans die militair-politische Situation Ru߬
lands in Mittelasien, so ist diese keineswegs eine günstige zu nennen.

Es tritt uns hier zuerst die so entfernte Lage des General-Gouvernements
Turkestan von dem eigentlichen Rußland entgegen, welche noch besonders da¬
durch in's Gewicht fällt, daß sich zwischen beiden weite Wüsten- und Steppen¬
strecken hinziehen, welche die Kommunieation aufs äußerste erschweren. Zwischen
Taschkend und Orssk am Ural beträgt die Entfernung ohngefähr 1800, zwischen
Taschkend und Ssemipalatinssk am Irtysch ohngefähr 1700 und sogar bis
Wiärnoje über 700 Werst.

Diese weiten Entfernungen machen sich um so mehr für die Situation Ru߬
lands in jenem neu eroberten Gebiete in ungünstiger Weise geltend, da dort
sich gar keine Mittel bieten, die Armee im Falle großer und allgemeiner
Operationen zu ergänzen und auszurüsten. Das neue Wehrgesetz, wonach
jeder Russe zum activen Dienste verpflichtet ist, hat bekanntlich vorerst noch
keine Anwendung auf die russische Bevölkerung Turkestans gefunden, obwohl
Berathungen darüber schon seit geraumer Zeit gepflogen werden. Die ein¬
geborene Bevölkerung ist ganz von der Dienstpflicht ausgeschlossen. In Folge
dessen muß Rußland, um z. B. die Truppen des Ssyr-darinsskischen Oblasstj's
zu ergänzen, jährlich an 3800 seiner Söhne dahin senden. Sie kehren größten
Theils nicht zurück, und gehen somit -- da sie auch im Lande keine Mittel
finden, eine Familie zu gründen und sich fest anzusiedeln -- für die russischen
Interessen fast ganz unproductiv verloren. Die Transportkosten für die Er¬
gänzungsmannschaften sind nach Hunderttausenden zu berechnen, und die Trans¬
portdauer ist nicht etwa nach Tagen, sondern nach Wochen, ja Monaten zu
bemessen. Drei bis vier Procent, wenn nicht mehr, müssen über den Rekruten¬
bedarf ausgehoben und abgeschickt werden, um nur die nöthige Anzahl an Ort
und Stelle zu bringen. -- Da überhaupt im asiatischen Rußland sich weder
eine Geschütz-, noch eine Gewehr-, noch eine Pulver-Fabrik befindet, so bedarf
auch der materielle Theil der Kriegsmacht große Zufuhren an Waffen, Ge¬
schossen und Pulver. Ein Kanonenschuß, welcher in Taschkend abgefeuert wird,
kommt dem Staate allein an Transportkosten auf 10 Rubel zu stehen. Ueber¬
haupt kostet der Soldat in Asien nach einem Durchschnitte der Jahre 1868,
1869 und 1870 5 R. 56 Kop. mehr als der Soldat, welcher im europäischen
Theile des Reichs steht, und für welchen 95 R. 29 Kop. in Ansatz kommen.

In diesen Beziehungen wird aber der Bau der Anfang dieses Jahres von
der Regierung bestätigten sibirischen Eisenbahnlinie von Nijni-Nowgorod nach
Tjumen an der Tura von großem unberechenbarem Einfluß sein. Schon die


Grenzboten I. 1877. 12

Turkestans noch zu kämpfen hat. Wie wichtig ist also eine Aenderung zum
Bessern! —

Werfen wir nun einen Blick ans die militair-politische Situation Ru߬
lands in Mittelasien, so ist diese keineswegs eine günstige zu nennen.

Es tritt uns hier zuerst die so entfernte Lage des General-Gouvernements
Turkestan von dem eigentlichen Rußland entgegen, welche noch besonders da¬
durch in's Gewicht fällt, daß sich zwischen beiden weite Wüsten- und Steppen¬
strecken hinziehen, welche die Kommunieation aufs äußerste erschweren. Zwischen
Taschkend und Orssk am Ural beträgt die Entfernung ohngefähr 1800, zwischen
Taschkend und Ssemipalatinssk am Irtysch ohngefähr 1700 und sogar bis
Wiärnoje über 700 Werst.

Diese weiten Entfernungen machen sich um so mehr für die Situation Ru߬
lands in jenem neu eroberten Gebiete in ungünstiger Weise geltend, da dort
sich gar keine Mittel bieten, die Armee im Falle großer und allgemeiner
Operationen zu ergänzen und auszurüsten. Das neue Wehrgesetz, wonach
jeder Russe zum activen Dienste verpflichtet ist, hat bekanntlich vorerst noch
keine Anwendung auf die russische Bevölkerung Turkestans gefunden, obwohl
Berathungen darüber schon seit geraumer Zeit gepflogen werden. Die ein¬
geborene Bevölkerung ist ganz von der Dienstpflicht ausgeschlossen. In Folge
dessen muß Rußland, um z. B. die Truppen des Ssyr-darinsskischen Oblasstj's
zu ergänzen, jährlich an 3800 seiner Söhne dahin senden. Sie kehren größten
Theils nicht zurück, und gehen somit — da sie auch im Lande keine Mittel
finden, eine Familie zu gründen und sich fest anzusiedeln — für die russischen
Interessen fast ganz unproductiv verloren. Die Transportkosten für die Er¬
gänzungsmannschaften sind nach Hunderttausenden zu berechnen, und die Trans¬
portdauer ist nicht etwa nach Tagen, sondern nach Wochen, ja Monaten zu
bemessen. Drei bis vier Procent, wenn nicht mehr, müssen über den Rekruten¬
bedarf ausgehoben und abgeschickt werden, um nur die nöthige Anzahl an Ort
und Stelle zu bringen. — Da überhaupt im asiatischen Rußland sich weder
eine Geschütz-, noch eine Gewehr-, noch eine Pulver-Fabrik befindet, so bedarf
auch der materielle Theil der Kriegsmacht große Zufuhren an Waffen, Ge¬
schossen und Pulver. Ein Kanonenschuß, welcher in Taschkend abgefeuert wird,
kommt dem Staate allein an Transportkosten auf 10 Rubel zu stehen. Ueber¬
haupt kostet der Soldat in Asien nach einem Durchschnitte der Jahre 1868,
1869 und 1870 5 R. 56 Kop. mehr als der Soldat, welcher im europäischen
Theile des Reichs steht, und für welchen 95 R. 29 Kop. in Ansatz kommen.

In diesen Beziehungen wird aber der Bau der Anfang dieses Jahres von
der Regierung bestätigten sibirischen Eisenbahnlinie von Nijni-Nowgorod nach
Tjumen an der Tura von großem unberechenbarem Einfluß sein. Schon die


Grenzboten I. 1877. 12
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[0097] Turkestans noch zu kämpfen hat. Wie wichtig ist also eine Aenderung zum Bessern! — Werfen wir nun einen Blick ans die militair-politische Situation Ru߬ lands in Mittelasien, so ist diese keineswegs eine günstige zu nennen. Es tritt uns hier zuerst die so entfernte Lage des General-Gouvernements Turkestan von dem eigentlichen Rußland entgegen, welche noch besonders da¬ durch in's Gewicht fällt, daß sich zwischen beiden weite Wüsten- und Steppen¬ strecken hinziehen, welche die Kommunieation aufs äußerste erschweren. Zwischen Taschkend und Orssk am Ural beträgt die Entfernung ohngefähr 1800, zwischen Taschkend und Ssemipalatinssk am Irtysch ohngefähr 1700 und sogar bis Wiärnoje über 700 Werst. Diese weiten Entfernungen machen sich um so mehr für die Situation Ru߬ lands in jenem neu eroberten Gebiete in ungünstiger Weise geltend, da dort sich gar keine Mittel bieten, die Armee im Falle großer und allgemeiner Operationen zu ergänzen und auszurüsten. Das neue Wehrgesetz, wonach jeder Russe zum activen Dienste verpflichtet ist, hat bekanntlich vorerst noch keine Anwendung auf die russische Bevölkerung Turkestans gefunden, obwohl Berathungen darüber schon seit geraumer Zeit gepflogen werden. Die ein¬ geborene Bevölkerung ist ganz von der Dienstpflicht ausgeschlossen. In Folge dessen muß Rußland, um z. B. die Truppen des Ssyr-darinsskischen Oblasstj's zu ergänzen, jährlich an 3800 seiner Söhne dahin senden. Sie kehren größten Theils nicht zurück, und gehen somit — da sie auch im Lande keine Mittel finden, eine Familie zu gründen und sich fest anzusiedeln — für die russischen Interessen fast ganz unproductiv verloren. Die Transportkosten für die Er¬ gänzungsmannschaften sind nach Hunderttausenden zu berechnen, und die Trans¬ portdauer ist nicht etwa nach Tagen, sondern nach Wochen, ja Monaten zu bemessen. Drei bis vier Procent, wenn nicht mehr, müssen über den Rekruten¬ bedarf ausgehoben und abgeschickt werden, um nur die nöthige Anzahl an Ort und Stelle zu bringen. — Da überhaupt im asiatischen Rußland sich weder eine Geschütz-, noch eine Gewehr-, noch eine Pulver-Fabrik befindet, so bedarf auch der materielle Theil der Kriegsmacht große Zufuhren an Waffen, Ge¬ schossen und Pulver. Ein Kanonenschuß, welcher in Taschkend abgefeuert wird, kommt dem Staate allein an Transportkosten auf 10 Rubel zu stehen. Ueber¬ haupt kostet der Soldat in Asien nach einem Durchschnitte der Jahre 1868, 1869 und 1870 5 R. 56 Kop. mehr als der Soldat, welcher im europäischen Theile des Reichs steht, und für welchen 95 R. 29 Kop. in Ansatz kommen. In diesen Beziehungen wird aber der Bau der Anfang dieses Jahres von der Regierung bestätigten sibirischen Eisenbahnlinie von Nijni-Nowgorod nach Tjumen an der Tura von großem unberechenbarem Einfluß sein. Schon die Grenzboten I. 1877. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/97>, abgerufen am 23.07.2024.