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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Was nun schließlich den Krieg Rußlands mit den aufständischen Kvlanzeu
betrifft, so war ersterem anfangs, -- wie uns bekannt -- eine defensive
Rolle zugewiesen: sein Gebiet, seine Unterthanen mußte es gegen die Einfälle
der Aufständische" vertheidigen. Das spätere offensive Vorgehen war anch ein
gezwungenes: die anarchischen Zustände im Chanat durften nicht einen Umfang
erreichen, welcher die höchste Gefahr für den eigenen Besitz in sich bergen
konnte. Nassr-Eddin hatte nicht die Macht, den Aufstand zu unterdrücke"; --
Putat-del, Abdurachman-Awtobatschi waren erklärte Feinde der Russen. Sollte,
konnte man diesen die Zügel der Regierung in die Hände geben? Unmöglich.
Was blieb also anders übrig, als das Chanat in eigene Verwaltung zu
nehmen. Es war das die einzige Garantie sür die Sicherheit des eigenen
Besitzthums.

Es ist ja auch noch sehr zu bezweifeln, ob Rußland ans der Einverlei-
bung Kokaus wirkliche materielle Vortheile erwachsen werden; -- und es fragt
sich, ob die Oberherrschaft, die es ja thatsächlich über deu vertriebenen Chu-
dojar-Chan, seit der Begründung des General-Gouvernements, ausübte, minde¬
stens nicht weniger kostspielig war, als der jetzt eingetretene eigene Besitz des
Chcmats. Haben die Russen aber in Mittelasien ein Land einmal mit den
Waffen in der Hand betreten, so können sie nicht wieder davon Abstand nehmen,
ohne an ihrem moralischen Einflüsse selbst ihren eigenen asiatischen Unterthanen
gegenüber Einbuße zu erleiden.

Daß also das Vorgehen Rußlands in Asien doch nicht bloß mit dem Satze:
"I'g.xvLt,it, pisile. en ilmnZsant" -- wie es wohl häufig geschieht -- begründet
werden kann, dürfte wohl aus jenen Deductionen hervorgehen. Rußland ist
mehr getrieben worden, als selbst treibend gewesen. An irgend einem beliebigen
Punkte Halt zu machen -- wie es so oft besonders die englische Presse verlangt
hat -- lag thatsächlich nicht in seiner Macht.

Daß Rußland andererseits aber an der Besitzergreifung jener Gebiete nicht
auch ein sehr großes Interesse gehabt, daß es jene dort bestehenden Verhältnisse
nicht auch zu seinem Nutzen ausgekauft habe -- das zu behaupten kann mir
natürlich nicht in den Sinn kommen. Es wäre weit über das Ziel hinaus¬
geschossen. Im Gegentheil, Rußland hat in der That ein großes Interesse
daran, in Mittelasien festen Fuß zu fassen, -- und das liegt in seiner Handels¬
politik begründet.

Rußland ist -- das wird selbst von russischer Seite zugegeben -- als
Kulturstaat hinter den andern Großstaaten Europas zurückgeblieben. Es hat
trotz seiner enormen Anstrengungen, die es von Peter dem Großen an bis
auf den heutigen Tag gemacht hat, den Standpunkt jener noch nicht erreichen
können. Sein rastloses Vorwärtsstreben aber auf allen Gebieten des Staats-


Was nun schließlich den Krieg Rußlands mit den aufständischen Kvlanzeu
betrifft, so war ersterem anfangs, — wie uns bekannt — eine defensive
Rolle zugewiesen: sein Gebiet, seine Unterthanen mußte es gegen die Einfälle
der Aufständische» vertheidigen. Das spätere offensive Vorgehen war anch ein
gezwungenes: die anarchischen Zustände im Chanat durften nicht einen Umfang
erreichen, welcher die höchste Gefahr für den eigenen Besitz in sich bergen
konnte. Nassr-Eddin hatte nicht die Macht, den Aufstand zu unterdrücke»; —
Putat-del, Abdurachman-Awtobatschi waren erklärte Feinde der Russen. Sollte,
konnte man diesen die Zügel der Regierung in die Hände geben? Unmöglich.
Was blieb also anders übrig, als das Chanat in eigene Verwaltung zu
nehmen. Es war das die einzige Garantie sür die Sicherheit des eigenen
Besitzthums.

Es ist ja auch noch sehr zu bezweifeln, ob Rußland ans der Einverlei-
bung Kokaus wirkliche materielle Vortheile erwachsen werden; — und es fragt
sich, ob die Oberherrschaft, die es ja thatsächlich über deu vertriebenen Chu-
dojar-Chan, seit der Begründung des General-Gouvernements, ausübte, minde¬
stens nicht weniger kostspielig war, als der jetzt eingetretene eigene Besitz des
Chcmats. Haben die Russen aber in Mittelasien ein Land einmal mit den
Waffen in der Hand betreten, so können sie nicht wieder davon Abstand nehmen,
ohne an ihrem moralischen Einflüsse selbst ihren eigenen asiatischen Unterthanen
gegenüber Einbuße zu erleiden.

Daß also das Vorgehen Rußlands in Asien doch nicht bloß mit dem Satze:
«I'g.xvLt,it, pisile. en ilmnZsant» — wie es wohl häufig geschieht — begründet
werden kann, dürfte wohl aus jenen Deductionen hervorgehen. Rußland ist
mehr getrieben worden, als selbst treibend gewesen. An irgend einem beliebigen
Punkte Halt zu machen — wie es so oft besonders die englische Presse verlangt
hat — lag thatsächlich nicht in seiner Macht.

Daß Rußland andererseits aber an der Besitzergreifung jener Gebiete nicht
auch ein sehr großes Interesse gehabt, daß es jene dort bestehenden Verhältnisse
nicht auch zu seinem Nutzen ausgekauft habe — das zu behaupten kann mir
natürlich nicht in den Sinn kommen. Es wäre weit über das Ziel hinaus¬
geschossen. Im Gegentheil, Rußland hat in der That ein großes Interesse
daran, in Mittelasien festen Fuß zu fassen, — und das liegt in seiner Handels¬
politik begründet.

Rußland ist — das wird selbst von russischer Seite zugegeben — als
Kulturstaat hinter den andern Großstaaten Europas zurückgeblieben. Es hat
trotz seiner enormen Anstrengungen, die es von Peter dem Großen an bis
auf den heutigen Tag gemacht hat, den Standpunkt jener noch nicht erreichen
können. Sein rastloses Vorwärtsstreben aber auf allen Gebieten des Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/94>, abgerufen am 23.07.2024.