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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Ausdehnung weiterhin nicht auf solche unbeständige Bevölkerungen, wie die
nomadischen Stämme, sondern ans regelmäßiger eingerichtete Staaten stoßen,
beträchtliche Anstrengungen erfordern und uns von Annexion zu Annexion, zu
unabsehbaren Verwickelungen fortreißen würde." . . . Schließlich sprach der
Reichskanzler aus: "Ich habe nicht nöthig, auf das augenfällige Interesse
hinzuweisen, welches Rußland hat, sein Gebiet nicht weiter zu ver¬
größern."

Den zuletzt herausgehobenen Satz haben -- wie wir wissen -- die Ereig¬
nisse nicht bewahrheitet. Rußland ist vielmehr -- wie der Reichskanzler ja
vorhergesagt -- von Annexion zu Annexion fortgerissen. Jene Versiche¬
rungen, sich nicht weiter auszudehnen, verloren ihre bindende Kraft, so bald die
Voraussetzungen, unter denen sie gegeben waren, andere wurden. Die Völker¬
schaften, mit denen Rußland nunmehr in Contakt gekommen war, entsprachen
eben nicht den Erwartungen: sie zeigten sich nicht weniger unbeständig, als die
Nomaden. Dazu kam dann serner, daß der Emir von Buchara sich noch in
den Besitz des Chanats Kokan zu setze" drohte. Hätte Rußland nach Consti-
tuirung des Grenzbezirks Turkestan Halt gemacht, wiirde es, in Folge jener
Bestrebungen des Emir Musafar, sich plötzlich einer Macht gegenüber gesehen
haben, die wohl die Kraft gehabt hätte, den Fortbestand des bisher Erreich¬
ten wenigstens wieder in Frage zu stellen. So nahm Rußland Taschkend, und
trat noch mit Buchara, das sich seinen Willen entgegenstellte, in einen Krieg
ein, der es bis Ssamarkand führte.

Die Nothwendigkeit, gegen Chiwa im Jahre 1873 entschieden vorzugehen,
resultirt unmittelbar aus jenem Schritte der Kaiserin Anna, die Kirgisen
in den russischen Unterthanenverband aufzunehmen. Um den Westen Mittel¬
asiens endlich zur Ruhe kommen zu lassen, mußte Chiwa, der Mittelpunkt
jener widerspenstigen, hartnäckigen, räuberischen Nomaden, die ganze Schwere
der russischen Macht fühlen, mußte jeden politischen Einfluß nach Außen ver¬
lieren. Sollte Rußland aber nicht immer wieder zu solchen mit großen Opfern
verknüpften Kriegszügen gezwungen fein, so mußte es sich die Garantie schaffen,
daß jener Raubstaat uicht wieder erstarke und nach wie vor die alte Rolle in
teilen Gegenden übernehme. Dazu war die Anlage des Forts Petro-Alexan-
drowssk vor den Thoren der Chiwa-Oase nöthig: die Annectirung jenes Land¬
striches mußte die unmittelbare Folge sein.

Es ist uicht zu leugnen, daß diese Thatsache den Versicherungen des
Grafen Schnwalow diametral entgegengesetzt ist. Die Politik wird aber nicht
durch die Moral beherrscht, sondern allein dnrch die Interessen. Und das Interesse
Rußlands verlangte kategorisch die Beschneidung des chinesischen Terri¬
toriums. --


Ausdehnung weiterhin nicht auf solche unbeständige Bevölkerungen, wie die
nomadischen Stämme, sondern ans regelmäßiger eingerichtete Staaten stoßen,
beträchtliche Anstrengungen erfordern und uns von Annexion zu Annexion, zu
unabsehbaren Verwickelungen fortreißen würde." . . . Schließlich sprach der
Reichskanzler aus: „Ich habe nicht nöthig, auf das augenfällige Interesse
hinzuweisen, welches Rußland hat, sein Gebiet nicht weiter zu ver¬
größern."

Den zuletzt herausgehobenen Satz haben — wie wir wissen — die Ereig¬
nisse nicht bewahrheitet. Rußland ist vielmehr — wie der Reichskanzler ja
vorhergesagt — von Annexion zu Annexion fortgerissen. Jene Versiche¬
rungen, sich nicht weiter auszudehnen, verloren ihre bindende Kraft, so bald die
Voraussetzungen, unter denen sie gegeben waren, andere wurden. Die Völker¬
schaften, mit denen Rußland nunmehr in Contakt gekommen war, entsprachen
eben nicht den Erwartungen: sie zeigten sich nicht weniger unbeständig, als die
Nomaden. Dazu kam dann serner, daß der Emir von Buchara sich noch in
den Besitz des Chanats Kokan zu setze« drohte. Hätte Rußland nach Consti-
tuirung des Grenzbezirks Turkestan Halt gemacht, wiirde es, in Folge jener
Bestrebungen des Emir Musafar, sich plötzlich einer Macht gegenüber gesehen
haben, die wohl die Kraft gehabt hätte, den Fortbestand des bisher Erreich¬
ten wenigstens wieder in Frage zu stellen. So nahm Rußland Taschkend, und
trat noch mit Buchara, das sich seinen Willen entgegenstellte, in einen Krieg
ein, der es bis Ssamarkand führte.

Die Nothwendigkeit, gegen Chiwa im Jahre 1873 entschieden vorzugehen,
resultirt unmittelbar aus jenem Schritte der Kaiserin Anna, die Kirgisen
in den russischen Unterthanenverband aufzunehmen. Um den Westen Mittel¬
asiens endlich zur Ruhe kommen zu lassen, mußte Chiwa, der Mittelpunkt
jener widerspenstigen, hartnäckigen, räuberischen Nomaden, die ganze Schwere
der russischen Macht fühlen, mußte jeden politischen Einfluß nach Außen ver¬
lieren. Sollte Rußland aber nicht immer wieder zu solchen mit großen Opfern
verknüpften Kriegszügen gezwungen fein, so mußte es sich die Garantie schaffen,
daß jener Raubstaat uicht wieder erstarke und nach wie vor die alte Rolle in
teilen Gegenden übernehme. Dazu war die Anlage des Forts Petro-Alexan-
drowssk vor den Thoren der Chiwa-Oase nöthig: die Annectirung jenes Land¬
striches mußte die unmittelbare Folge sein.

Es ist uicht zu leugnen, daß diese Thatsache den Versicherungen des
Grafen Schnwalow diametral entgegengesetzt ist. Die Politik wird aber nicht
durch die Moral beherrscht, sondern allein dnrch die Interessen. Und das Interesse
Rußlands verlangte kategorisch die Beschneidung des chinesischen Terri¬
toriums. —


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[0093] Ausdehnung weiterhin nicht auf solche unbeständige Bevölkerungen, wie die nomadischen Stämme, sondern ans regelmäßiger eingerichtete Staaten stoßen, beträchtliche Anstrengungen erfordern und uns von Annexion zu Annexion, zu unabsehbaren Verwickelungen fortreißen würde." . . . Schließlich sprach der Reichskanzler aus: „Ich habe nicht nöthig, auf das augenfällige Interesse hinzuweisen, welches Rußland hat, sein Gebiet nicht weiter zu ver¬ größern." Den zuletzt herausgehobenen Satz haben — wie wir wissen — die Ereig¬ nisse nicht bewahrheitet. Rußland ist vielmehr — wie der Reichskanzler ja vorhergesagt — von Annexion zu Annexion fortgerissen. Jene Versiche¬ rungen, sich nicht weiter auszudehnen, verloren ihre bindende Kraft, so bald die Voraussetzungen, unter denen sie gegeben waren, andere wurden. Die Völker¬ schaften, mit denen Rußland nunmehr in Contakt gekommen war, entsprachen eben nicht den Erwartungen: sie zeigten sich nicht weniger unbeständig, als die Nomaden. Dazu kam dann serner, daß der Emir von Buchara sich noch in den Besitz des Chanats Kokan zu setze« drohte. Hätte Rußland nach Consti- tuirung des Grenzbezirks Turkestan Halt gemacht, wiirde es, in Folge jener Bestrebungen des Emir Musafar, sich plötzlich einer Macht gegenüber gesehen haben, die wohl die Kraft gehabt hätte, den Fortbestand des bisher Erreich¬ ten wenigstens wieder in Frage zu stellen. So nahm Rußland Taschkend, und trat noch mit Buchara, das sich seinen Willen entgegenstellte, in einen Krieg ein, der es bis Ssamarkand führte. Die Nothwendigkeit, gegen Chiwa im Jahre 1873 entschieden vorzugehen, resultirt unmittelbar aus jenem Schritte der Kaiserin Anna, die Kirgisen in den russischen Unterthanenverband aufzunehmen. Um den Westen Mittel¬ asiens endlich zur Ruhe kommen zu lassen, mußte Chiwa, der Mittelpunkt jener widerspenstigen, hartnäckigen, räuberischen Nomaden, die ganze Schwere der russischen Macht fühlen, mußte jeden politischen Einfluß nach Außen ver¬ lieren. Sollte Rußland aber nicht immer wieder zu solchen mit großen Opfern verknüpften Kriegszügen gezwungen fein, so mußte es sich die Garantie schaffen, daß jener Raubstaat uicht wieder erstarke und nach wie vor die alte Rolle in teilen Gegenden übernehme. Dazu war die Anlage des Forts Petro-Alexan- drowssk vor den Thoren der Chiwa-Oase nöthig: die Annectirung jenes Land¬ striches mußte die unmittelbare Folge sein. Es ist uicht zu leugnen, daß diese Thatsache den Versicherungen des Grafen Schnwalow diametral entgegengesetzt ist. Die Politik wird aber nicht durch die Moral beherrscht, sondern allein dnrch die Interessen. Und das Interesse Rußlands verlangte kategorisch die Beschneidung des chinesischen Terri¬ toriums. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/93>, abgerufen am 23.07.2024.