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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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dieses Vertrauen rechtfertigen und daß damit sein Ansehn und seine Stellung
in der Nation in bedeutendem Maaße noch wachsen werden. --

Was die Strafprozeßordnung anlangt, so bot ihre Herstellung für die
heutige Gesetzgebung vielleicht die schwierigste Aufgabe. Denn über die Grund¬
prinzipien der Strafrechtspflege sind in der deutschen Juristenwelt wie unter
den gebildeten Laien, welche sich dafür interessiren, die Ansichten am wenigsten
ausgeglichen und geklärt. Es kann wohl kein größeres Zeichen der in diesem
Punkt noch herrschenden Verworrenheit geben als die Thatsache, daß einige
unserer Juristen, darunter ein Name ersten Ranges, die Reform des deutschen
Strafprozesses auf die barbarischen Grundlagen des englischen Strafverfahrens
zu vasiren vorschlagen. Dieses Verfahren ist nämlich ein folgerichtig durch¬
gebildeter Parteiprozeß, der auf dem Gedanken ruhte, daß ein Verletzter und
ein Beschuldigter um Verhängung oder Abwälzung der Strafe mit einander
streiten. Der Gedanke ist diesem Verfahren noch völlig fremd, daß der Staat
das Verbrechen nach seinem Bestand und seiner Beschaffenheit zu durchdringen
und, mit Rücksicht auf den Kampf gegen die Wurzel des Verbrechens in der
Gesellschaft, zu ahnden hat. Das deutsche Rechtsgefühl würde sich in die
Türkei versetzt glauben, wenn in unserem Strafprozeß Zeugen auftreten sollten,
die blos zu Gunsten des Klägers, und andere Zeugen, die blos zu Gunsten
des Beschuldigten aussagen dürften. Wir wollen uns hier jetzt nicht weiter
vertiefen in die Scheinhumanität und Barbarei des englischen Strafprozesses,
welche ebenso oft die Ohnmacht gegen das Verbrechen, wie die Ungerechtigkeit
gegen den Angeklagten zur Folge hat. Aber es darf nun freilich nicht verhehlt
werden, daß der moderne, der wahren Cultur allein entsprechende Gedanke
des Strafprozesses: das Verbrechen vom Standpunkt der öffentlichen Wohlfahrt
zu erkennen und in seinen Wurzeln zu bekämpfen, sich ein entsprechendes Ver¬
fahren noch nicht durchgebildet hat. Man hat bisher in den Ländern des
öffentlichen Staatslebens, nachdem der schriftliche Jnquisitionsprozeß in Folge
zunehmender Entartung verlassen worden, den modernen Gedanken der Straf¬
rechtspflege auf den mittelalterlichen englischen Strafprozeß mehr oder minder
unharmonisch aufgepfropft. Ueber diese Verquickung unverträglicher Momente
ist auch die neue deutsche Strafprozeßordnung noch nicht hinweggekommen.
Und man muß so gerecht sein anzuerkennen, daß die wahre Gestalt des modernen
Strafprozesses nicht mit einem Schlag sich aufstellen ließ, selbst wenn sie in
einem oder dem andern der an der Gesetzgebung betheiligten Köpfe schon
theoretisch ausgezogen gewesen wäre, nachdem die Praxis bisher noch in so
unvollkommenen Bildungen ohne Ausnahme sich bewegt hat. Es mag einer
späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben, den Widerspruch, der unvermeidlich
war, der aber doch die Strafe macht, im Einzelnen darzulegen. Daß die


dieses Vertrauen rechtfertigen und daß damit sein Ansehn und seine Stellung
in der Nation in bedeutendem Maaße noch wachsen werden. —

Was die Strafprozeßordnung anlangt, so bot ihre Herstellung für die
heutige Gesetzgebung vielleicht die schwierigste Aufgabe. Denn über die Grund¬
prinzipien der Strafrechtspflege sind in der deutschen Juristenwelt wie unter
den gebildeten Laien, welche sich dafür interessiren, die Ansichten am wenigsten
ausgeglichen und geklärt. Es kann wohl kein größeres Zeichen der in diesem
Punkt noch herrschenden Verworrenheit geben als die Thatsache, daß einige
unserer Juristen, darunter ein Name ersten Ranges, die Reform des deutschen
Strafprozesses auf die barbarischen Grundlagen des englischen Strafverfahrens
zu vasiren vorschlagen. Dieses Verfahren ist nämlich ein folgerichtig durch¬
gebildeter Parteiprozeß, der auf dem Gedanken ruhte, daß ein Verletzter und
ein Beschuldigter um Verhängung oder Abwälzung der Strafe mit einander
streiten. Der Gedanke ist diesem Verfahren noch völlig fremd, daß der Staat
das Verbrechen nach seinem Bestand und seiner Beschaffenheit zu durchdringen
und, mit Rücksicht auf den Kampf gegen die Wurzel des Verbrechens in der
Gesellschaft, zu ahnden hat. Das deutsche Rechtsgefühl würde sich in die
Türkei versetzt glauben, wenn in unserem Strafprozeß Zeugen auftreten sollten,
die blos zu Gunsten des Klägers, und andere Zeugen, die blos zu Gunsten
des Beschuldigten aussagen dürften. Wir wollen uns hier jetzt nicht weiter
vertiefen in die Scheinhumanität und Barbarei des englischen Strafprozesses,
welche ebenso oft die Ohnmacht gegen das Verbrechen, wie die Ungerechtigkeit
gegen den Angeklagten zur Folge hat. Aber es darf nun freilich nicht verhehlt
werden, daß der moderne, der wahren Cultur allein entsprechende Gedanke
des Strafprozesses: das Verbrechen vom Standpunkt der öffentlichen Wohlfahrt
zu erkennen und in seinen Wurzeln zu bekämpfen, sich ein entsprechendes Ver¬
fahren noch nicht durchgebildet hat. Man hat bisher in den Ländern des
öffentlichen Staatslebens, nachdem der schriftliche Jnquisitionsprozeß in Folge
zunehmender Entartung verlassen worden, den modernen Gedanken der Straf¬
rechtspflege auf den mittelalterlichen englischen Strafprozeß mehr oder minder
unharmonisch aufgepfropft. Ueber diese Verquickung unverträglicher Momente
ist auch die neue deutsche Strafprozeßordnung noch nicht hinweggekommen.
Und man muß so gerecht sein anzuerkennen, daß die wahre Gestalt des modernen
Strafprozesses nicht mit einem Schlag sich aufstellen ließ, selbst wenn sie in
einem oder dem andern der an der Gesetzgebung betheiligten Köpfe schon
theoretisch ausgezogen gewesen wäre, nachdem die Praxis bisher noch in so
unvollkommenen Bildungen ohne Ausnahme sich bewegt hat. Es mag einer
späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben, den Widerspruch, der unvermeidlich
war, der aber doch die Strafe macht, im Einzelnen darzulegen. Daß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/74>, abgerufen am 23.07.2024.