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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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friede hängt, einzig und allein den zitternden Händen eines Sultans oder
Großwessirs zu überlassen, der für die Erfüllung eines Regierungsaetes so
wenig zu bürgen vermag wie für die kurze Spanne Zeit, die ihm vielleicht zu
leben vergönnt ist? Was nützen alle feierlichen Versprechungen, was nützen
selbst die besten Verfassungsurkunden, wo die Elemente einer gesunden, staat¬
lichen Entwickelung fehlen, wo der blinde Fatalismus oder der blinde Zufall
in alleu Lebenssphären das Scepter führt, wo der Padischah als Nachfolger
des Chalifen verpflichtet ist, den Glauben als die oberste Staatsmaxime zu
vertreten? Was ist also zu thun, um den europäischen Provinzen der Türkei,
Ländern mit fast vorwiegend christlicher Bevölkerung die wirkliche Durchführung
der ihnen zugesicherten Reformen zu sichern? >

Hier sind wir am Brennpunkte der heutigen diplomatischen Lage angelangt,
und wenn wir mit dem Verfasser bisher im Wesentlichen einverstanden waren
so können wir ihm im Folgenden nur gelegentlich beipflichten. Die Frage
nach den Bürgschaften für die türkischen Reformen ist die Hauptfrage der
jetzt in Konstantinopel versammelten Conferenz. Die soeben verkündete Ver¬
fassung ist kein Aequivalent dafür. Diese Bürgschaften, von Rußland mit
vollem Rechte verlangt, sind temporäre, die nur dazu dienen sollen,
von Seiten der europäischen Mächte den nöthigen moralischen Druck auf die
Entschließungen der Pforte zu üben, und dauernde, für die Zukunft wirk¬
same, welche in dem Inhalte und dem Durchführungsmodns der Reformen
selbst liegen sollen.

Als temporäre Bürgschaften hatte das Petersburger Kabinet die Occu-
pation Bulgariens durch Rußland und Bosniens durch Oesterreich vorgeschlagen,
wobei eine Flottendemonstration vor Konstantinopel von Seiten Englands
nicht ausgeschlossen sein sollte. Wir finden das billig, der Verfasser nicht;
denn man weiß, sagt er, was man von einer "vorübergehenden" Occupation
eines Landes durch russische Truppen zu gewärtigen hat. Er glaubt also
den Versicherungen des Kaisers Alexander nicht. Wir meinen, man sollte ihnen
mit dem Fürsten Bismarck glauben, und man könnte österreichischerseits ab¬
warten, ob man sich getäuscht hätte.

Als dauernde Bürgschaften zur Sicherung der lokalen und administrativen
Autonomie der Provinzen Bosnien, Herzegowina und Bulgarien wurden von
Rußland allgemeine Entwaffnung der Bevölkerung, Concentrirung der osmani-
schen Truppen in den festen Plätzen, eine lokale Miliz und Polizei, Entfernung
der Tscherkessen, Einführung der lokalen Sprache in die Gerichtshöfe, Aufhe¬
bung der Zehnten, und Einscunmlung der Steuern durch eingeborne Beamte,
Ausschließung nicht eingeborner Würdenträger, Ernennung von Gouverneuren
entsprechend dem Glauben der Majorität der Bevölkerung, Untersuchung des


friede hängt, einzig und allein den zitternden Händen eines Sultans oder
Großwessirs zu überlassen, der für die Erfüllung eines Regierungsaetes so
wenig zu bürgen vermag wie für die kurze Spanne Zeit, die ihm vielleicht zu
leben vergönnt ist? Was nützen alle feierlichen Versprechungen, was nützen
selbst die besten Verfassungsurkunden, wo die Elemente einer gesunden, staat¬
lichen Entwickelung fehlen, wo der blinde Fatalismus oder der blinde Zufall
in alleu Lebenssphären das Scepter führt, wo der Padischah als Nachfolger
des Chalifen verpflichtet ist, den Glauben als die oberste Staatsmaxime zu
vertreten? Was ist also zu thun, um den europäischen Provinzen der Türkei,
Ländern mit fast vorwiegend christlicher Bevölkerung die wirkliche Durchführung
der ihnen zugesicherten Reformen zu sichern? >

Hier sind wir am Brennpunkte der heutigen diplomatischen Lage angelangt,
und wenn wir mit dem Verfasser bisher im Wesentlichen einverstanden waren
so können wir ihm im Folgenden nur gelegentlich beipflichten. Die Frage
nach den Bürgschaften für die türkischen Reformen ist die Hauptfrage der
jetzt in Konstantinopel versammelten Conferenz. Die soeben verkündete Ver¬
fassung ist kein Aequivalent dafür. Diese Bürgschaften, von Rußland mit
vollem Rechte verlangt, sind temporäre, die nur dazu dienen sollen,
von Seiten der europäischen Mächte den nöthigen moralischen Druck auf die
Entschließungen der Pforte zu üben, und dauernde, für die Zukunft wirk¬
same, welche in dem Inhalte und dem Durchführungsmodns der Reformen
selbst liegen sollen.

Als temporäre Bürgschaften hatte das Petersburger Kabinet die Occu-
pation Bulgariens durch Rußland und Bosniens durch Oesterreich vorgeschlagen,
wobei eine Flottendemonstration vor Konstantinopel von Seiten Englands
nicht ausgeschlossen sein sollte. Wir finden das billig, der Verfasser nicht;
denn man weiß, sagt er, was man von einer „vorübergehenden" Occupation
eines Landes durch russische Truppen zu gewärtigen hat. Er glaubt also
den Versicherungen des Kaisers Alexander nicht. Wir meinen, man sollte ihnen
mit dem Fürsten Bismarck glauben, und man könnte österreichischerseits ab¬
warten, ob man sich getäuscht hätte.

Als dauernde Bürgschaften zur Sicherung der lokalen und administrativen
Autonomie der Provinzen Bosnien, Herzegowina und Bulgarien wurden von
Rußland allgemeine Entwaffnung der Bevölkerung, Concentrirung der osmani-
schen Truppen in den festen Plätzen, eine lokale Miliz und Polizei, Entfernung
der Tscherkessen, Einführung der lokalen Sprache in die Gerichtshöfe, Aufhe¬
bung der Zehnten, und Einscunmlung der Steuern durch eingeborne Beamte,
Ausschließung nicht eingeborner Würdenträger, Ernennung von Gouverneuren
entsprechend dem Glauben der Majorität der Bevölkerung, Untersuchung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/70>, abgerufen am 23.07.2024.