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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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mischter Gerichte lind eines geregelten Steuersystems, von der Errichtung auto¬
nomer Behörden u. d. feierlich verkündigt hatten, das blieb zumeist todter
Buchstabe, während in Wirklichkeit die großen und kleinen Paschas in den
Provinzen ihr Unwesen forttrieben." Das muß jetzt anders werden. Die
"Unabhängigkeit und Integrität der Türkei" ist eine diplomatische Phrase von
höchst zweifelhaftem Werthe, welche die Türkenherrschaft nicht weiter decken
darf. Was ist zu thun?

Das Suzeränetätsverhältniß, in welchem heute Rumänien und Serbien
noch zur Pforte stehen, ist unhaltbar und zur völligen Lösung reif. Wer die
Entwickelung der Länder an der unteren Donau vorurtheilsfrei betrachtet,
kann sich hierüber keiner Täuschung hingeben. Oesterreich-Ungarn darf der
Erhebung jener Länder zu voller Selbständigkeit nicht entgegentreten. "Hat
die Pforte verhindern können, daß die Moldau und Walachei sich zu einem
rumänischen Fürstenthume vereinigt haben? Hat sie es auch nur versucht, sich
deshalb ernstlich auf den Wortlaut ihrer Verträge und Fermane zu berufen?
Hat sie ihre befestigte Stellung in Serbien zu behaupten vermocht? So muß
auch der letzte Schein der türkischen Souveränetät hinsichtlich der Fürstentümer
endlich dahin schwinden, damit diese sich nicht länger durch die Schmach ihrer
tributpflichtigen Existenz zu abenteuerlichen Kriegszügen und den allgemeinen
Frieden gefährdenden Großmachtsspieleu aufgestachelt fühlen, und damit sie
endlich, aus dem Bereiche der asiatisch beherrschten Völker tretend, sich der
europäischen Staatsordnung fügen." Die Sorge vor dem Entstehen souveräner
Kleinstaaten an der unteren Donau theilt der Verfasser uicht. Das bisherige
internationale Verhälniß Oesterreich-Ungarns zu den Regierungen in Belgrad
und Bukarest war kein angenehmes. Die falsche Stellung, in der jeder sich
befand, der mit diesen Regierungen zu verhandeln hatte, verhinderte jedes klare
Vertragsverhältniß; weder in Belgrad und Bukarest noch in Konstantinopel
fand man die richtige legitime Behörde, bei der mau sein Recht und seinen
Einfluß geltend machen konnte. Ist man in Wien gegenüber den Fürsten-
thümern der diplomatischen Rücksicht entbunden, welche man infolge der seltsamen
Verquickung von Souverän und Suzerün gleichzeitig zu nehmen hat, fo wird
die österreichische Politik dort eine ganz andere Basis gewinnen. Man wird
dann die mächtigen Nachbarn im Norden als offne Feinde oder als offne
Freunde schätzen lernen.

Auch die Furcht vor den nationalen Sympathien und Antipathien der
Fürstenthümer scheint grundlos zu sein. "Was bedeuten die nationalen Be¬
strebungen dieser kaum zur ersten Staatsreife gelangten, schwach organisirten
Nachbarstaaten, wenn sie nicht durch die Politik Rußlands geführt und zu
gemeinsamer Action getrieben werden? Gerade die Erfahrungen, welche im


mischter Gerichte lind eines geregelten Steuersystems, von der Errichtung auto¬
nomer Behörden u. d. feierlich verkündigt hatten, das blieb zumeist todter
Buchstabe, während in Wirklichkeit die großen und kleinen Paschas in den
Provinzen ihr Unwesen forttrieben." Das muß jetzt anders werden. Die
„Unabhängigkeit und Integrität der Türkei" ist eine diplomatische Phrase von
höchst zweifelhaftem Werthe, welche die Türkenherrschaft nicht weiter decken
darf. Was ist zu thun?

Das Suzeränetätsverhältniß, in welchem heute Rumänien und Serbien
noch zur Pforte stehen, ist unhaltbar und zur völligen Lösung reif. Wer die
Entwickelung der Länder an der unteren Donau vorurtheilsfrei betrachtet,
kann sich hierüber keiner Täuschung hingeben. Oesterreich-Ungarn darf der
Erhebung jener Länder zu voller Selbständigkeit nicht entgegentreten. „Hat
die Pforte verhindern können, daß die Moldau und Walachei sich zu einem
rumänischen Fürstenthume vereinigt haben? Hat sie es auch nur versucht, sich
deshalb ernstlich auf den Wortlaut ihrer Verträge und Fermane zu berufen?
Hat sie ihre befestigte Stellung in Serbien zu behaupten vermocht? So muß
auch der letzte Schein der türkischen Souveränetät hinsichtlich der Fürstentümer
endlich dahin schwinden, damit diese sich nicht länger durch die Schmach ihrer
tributpflichtigen Existenz zu abenteuerlichen Kriegszügen und den allgemeinen
Frieden gefährdenden Großmachtsspieleu aufgestachelt fühlen, und damit sie
endlich, aus dem Bereiche der asiatisch beherrschten Völker tretend, sich der
europäischen Staatsordnung fügen." Die Sorge vor dem Entstehen souveräner
Kleinstaaten an der unteren Donau theilt der Verfasser uicht. Das bisherige
internationale Verhälniß Oesterreich-Ungarns zu den Regierungen in Belgrad
und Bukarest war kein angenehmes. Die falsche Stellung, in der jeder sich
befand, der mit diesen Regierungen zu verhandeln hatte, verhinderte jedes klare
Vertragsverhältniß; weder in Belgrad und Bukarest noch in Konstantinopel
fand man die richtige legitime Behörde, bei der mau sein Recht und seinen
Einfluß geltend machen konnte. Ist man in Wien gegenüber den Fürsten-
thümern der diplomatischen Rücksicht entbunden, welche man infolge der seltsamen
Verquickung von Souverän und Suzerün gleichzeitig zu nehmen hat, fo wird
die österreichische Politik dort eine ganz andere Basis gewinnen. Man wird
dann die mächtigen Nachbarn im Norden als offne Feinde oder als offne
Freunde schätzen lernen.

Auch die Furcht vor den nationalen Sympathien und Antipathien der
Fürstenthümer scheint grundlos zu sein. „Was bedeuten die nationalen Be¬
strebungen dieser kaum zur ersten Staatsreife gelangten, schwach organisirten
Nachbarstaaten, wenn sie nicht durch die Politik Rußlands geführt und zu
gemeinsamer Action getrieben werden? Gerade die Erfahrungen, welche im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/68>, abgerufen am 23.07.2024.