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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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des Reiches nothwendig zu beweisen. Bei der Abstimmung über den Londoner
Posten aber wurde die Erhöhung mit 157 gegen 147 Stimmen abgelehnt.
Nunmehr warf für den Petersburger Posten der Reichskanzler selbst das ganze
Gewicht seiner Autorität in die Wagschale, und die Folge war hier die Be¬
willigung der Erhöhung mit 163 gegen 148 Stimmen. Wir fürchten, diese
beiden Abstimmungen sind ein Vorspiel dessen, was man in größeren Fragen
von dem neuen Reichstage zu erwarten hat. An zehn, fünfzehn Stimmen
mehr oder weniger hängt die Entscheidung, und irgend welcher vielleicht rein
zufälliger Umstand kann das Zünglein bald nach dieser, bald nach jener Seite
hin sich neigen machen.

Zum ersten Male sind in der abgelaufenen Woche auch die gewerblichen
Klagen im Reichstage lautgewordeu. Hoffen wir, daß die Weise, wie es ge¬
schah, kein böses Omen für die weitere Entwickelung dieser Angelegenheit ist!
Die deutsche Reichspartei, an der Spitze der sächsische Theil derselben, inter-
pellirte die Reichsregierung, ob dieselbe dem jetzt versammelten Reichstage zur
Beseitigung der unter der jetzigen Gewerbegesetzgebnng entstandenen Mißstände
Vorlagen über Abänderung derselben, "beispielsweise in Bezug auf das Lehr-
lingswesen, die Frauen- und Kinderarbeit, die Maßregeln zur Verhinderung
des Kvutraktbruchs, die Beschränkung der Wanderlager und des Hausirhandels,
sowie in Betreff der schaut- und Gastwirthschaften ?e." zur Berathung zu
unterbreiten gedenke. Eine solche Art des Vorgehens fordert nothwendig die
schärfste Kritik heraus. Niemand hat für die Gewerbeordnung vou 1869 die
Unfehlbarkeit in Anspruch genommen; es ist schlechterdings unmöglich, daß bei
einer so umfassenden und tiefgehenden Reform, wie sie durch dies Gesetz-
gebuugswerk vollzogen wurde, nicht Fehlgriffe gethan werden sollten, Fehl¬
griffe, in Bezug auf welche von vorne herein an eine spätere Revision gedacht
worden ist. Die Forderung der Anhänger der Gewerbefreiheit ist nur ge¬
wesen, daß diese Fehlgriffe genau erkannt seien, bevor man an eine Aenderung
der neuen Gesetzgebung herantrete. Die Urheber der in Rede stehenden Jnter¬
pellation haben es sich überaus bequem gemacht. Sie sind "geleitet von der
Ueberzeugung, daß die auf gewerblichen Gebiete unter der jetzigen Gewerbe¬
gesetzgebung entstandenen Mißstände einer Abhülfe bedürfen." Aber statt nun
diese Mißstände bestimmt zu bezeichnen und die Mittel zur Abhülfe anzugeben,
begnügen sie sich mit "beispielsweisen" Andentungen, die mit Hülfe eiues
"se e^col'g." lo intmitum vermehrt werden können, und lassen im übrigen die
Regierung allein sorgen. Wenn derartige vage Querelen in der Parteipresse,
auf Handwerkertagen und in Volksversammlungen erhoben werden, so ist das
uicht zu verwundern; von Männern aber, welche "Abgeordnete des ganzen
Volkes" sind und unmittelbar an der Gesetzgebuugsarbeit theilnehmen , sollte


des Reiches nothwendig zu beweisen. Bei der Abstimmung über den Londoner
Posten aber wurde die Erhöhung mit 157 gegen 147 Stimmen abgelehnt.
Nunmehr warf für den Petersburger Posten der Reichskanzler selbst das ganze
Gewicht seiner Autorität in die Wagschale, und die Folge war hier die Be¬
willigung der Erhöhung mit 163 gegen 148 Stimmen. Wir fürchten, diese
beiden Abstimmungen sind ein Vorspiel dessen, was man in größeren Fragen
von dem neuen Reichstage zu erwarten hat. An zehn, fünfzehn Stimmen
mehr oder weniger hängt die Entscheidung, und irgend welcher vielleicht rein
zufälliger Umstand kann das Zünglein bald nach dieser, bald nach jener Seite
hin sich neigen machen.

Zum ersten Male sind in der abgelaufenen Woche auch die gewerblichen
Klagen im Reichstage lautgewordeu. Hoffen wir, daß die Weise, wie es ge¬
schah, kein böses Omen für die weitere Entwickelung dieser Angelegenheit ist!
Die deutsche Reichspartei, an der Spitze der sächsische Theil derselben, inter-
pellirte die Reichsregierung, ob dieselbe dem jetzt versammelten Reichstage zur
Beseitigung der unter der jetzigen Gewerbegesetzgebnng entstandenen Mißstände
Vorlagen über Abänderung derselben, „beispielsweise in Bezug auf das Lehr-
lingswesen, die Frauen- und Kinderarbeit, die Maßregeln zur Verhinderung
des Kvutraktbruchs, die Beschränkung der Wanderlager und des Hausirhandels,
sowie in Betreff der schaut- und Gastwirthschaften ?e." zur Berathung zu
unterbreiten gedenke. Eine solche Art des Vorgehens fordert nothwendig die
schärfste Kritik heraus. Niemand hat für die Gewerbeordnung vou 1869 die
Unfehlbarkeit in Anspruch genommen; es ist schlechterdings unmöglich, daß bei
einer so umfassenden und tiefgehenden Reform, wie sie durch dies Gesetz-
gebuugswerk vollzogen wurde, nicht Fehlgriffe gethan werden sollten, Fehl¬
griffe, in Bezug auf welche von vorne herein an eine spätere Revision gedacht
worden ist. Die Forderung der Anhänger der Gewerbefreiheit ist nur ge¬
wesen, daß diese Fehlgriffe genau erkannt seien, bevor man an eine Aenderung
der neuen Gesetzgebung herantrete. Die Urheber der in Rede stehenden Jnter¬
pellation haben es sich überaus bequem gemacht. Sie sind „geleitet von der
Ueberzeugung, daß die auf gewerblichen Gebiete unter der jetzigen Gewerbe¬
gesetzgebung entstandenen Mißstände einer Abhülfe bedürfen." Aber statt nun
diese Mißstände bestimmt zu bezeichnen und die Mittel zur Abhülfe anzugeben,
begnügen sie sich mit „beispielsweisen" Andentungen, die mit Hülfe eiues
»se e^col'g." lo intmitum vermehrt werden können, und lassen im übrigen die
Regierung allein sorgen. Wenn derartige vage Querelen in der Parteipresse,
auf Handwerkertagen und in Volksversammlungen erhoben werden, so ist das
uicht zu verwundern; von Männern aber, welche „Abgeordnete des ganzen
Volkes" sind und unmittelbar an der Gesetzgebuugsarbeit theilnehmen , sollte


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[0525] des Reiches nothwendig zu beweisen. Bei der Abstimmung über den Londoner Posten aber wurde die Erhöhung mit 157 gegen 147 Stimmen abgelehnt. Nunmehr warf für den Petersburger Posten der Reichskanzler selbst das ganze Gewicht seiner Autorität in die Wagschale, und die Folge war hier die Be¬ willigung der Erhöhung mit 163 gegen 148 Stimmen. Wir fürchten, diese beiden Abstimmungen sind ein Vorspiel dessen, was man in größeren Fragen von dem neuen Reichstage zu erwarten hat. An zehn, fünfzehn Stimmen mehr oder weniger hängt die Entscheidung, und irgend welcher vielleicht rein zufälliger Umstand kann das Zünglein bald nach dieser, bald nach jener Seite hin sich neigen machen. Zum ersten Male sind in der abgelaufenen Woche auch die gewerblichen Klagen im Reichstage lautgewordeu. Hoffen wir, daß die Weise, wie es ge¬ schah, kein böses Omen für die weitere Entwickelung dieser Angelegenheit ist! Die deutsche Reichspartei, an der Spitze der sächsische Theil derselben, inter- pellirte die Reichsregierung, ob dieselbe dem jetzt versammelten Reichstage zur Beseitigung der unter der jetzigen Gewerbegesetzgebnng entstandenen Mißstände Vorlagen über Abänderung derselben, „beispielsweise in Bezug auf das Lehr- lingswesen, die Frauen- und Kinderarbeit, die Maßregeln zur Verhinderung des Kvutraktbruchs, die Beschränkung der Wanderlager und des Hausirhandels, sowie in Betreff der schaut- und Gastwirthschaften ?e." zur Berathung zu unterbreiten gedenke. Eine solche Art des Vorgehens fordert nothwendig die schärfste Kritik heraus. Niemand hat für die Gewerbeordnung vou 1869 die Unfehlbarkeit in Anspruch genommen; es ist schlechterdings unmöglich, daß bei einer so umfassenden und tiefgehenden Reform, wie sie durch dies Gesetz- gebuugswerk vollzogen wurde, nicht Fehlgriffe gethan werden sollten, Fehl¬ griffe, in Bezug auf welche von vorne herein an eine spätere Revision gedacht worden ist. Die Forderung der Anhänger der Gewerbefreiheit ist nur ge¬ wesen, daß diese Fehlgriffe genau erkannt seien, bevor man an eine Aenderung der neuen Gesetzgebung herantrete. Die Urheber der in Rede stehenden Jnter¬ pellation haben es sich überaus bequem gemacht. Sie sind „geleitet von der Ueberzeugung, daß die auf gewerblichen Gebiete unter der jetzigen Gewerbe¬ gesetzgebung entstandenen Mißstände einer Abhülfe bedürfen." Aber statt nun diese Mißstände bestimmt zu bezeichnen und die Mittel zur Abhülfe anzugeben, begnügen sie sich mit „beispielsweisen" Andentungen, die mit Hülfe eiues »se e^col'g." lo intmitum vermehrt werden können, und lassen im übrigen die Regierung allein sorgen. Wenn derartige vage Querelen in der Parteipresse, auf Handwerkertagen und in Volksversammlungen erhoben werden, so ist das uicht zu verwundern; von Männern aber, welche „Abgeordnete des ganzen Volkes" sind und unmittelbar an der Gesetzgebuugsarbeit theilnehmen , sollte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/525>, abgerufen am 23.07.2024.