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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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die Herausgabe desselben der weiteren Forschung zu Hülfe zu kommen." Daß
nur in ihm die zweite Bearbeitung Lessings (aller Wahrscheinlichkeit zufolge von
andrer Hand stark verändert) suchen müssen, scheint nicht gut zu bezweifeln;
denn von den oben angeführten Fragmenten, die zu der andern Bearbeitung
gehören, findet sich hier nichts, das Drama hat ferner den Habitus eines
"bürgerlichen Trauerspiels", wie Mendelssohn dasselbe 1755 bezeichnete, endlich
ist es außer der Schlußscene "ohne alle Teufelei", wie v. Gehler sich ausdrückt.
Wir heben mit dein Herausgeber noch hervor, daß der Name des bösen Geistes,
der Faust verführen will, hier zum ersten Male Mephistopheles geschrieben ist,
während er, wie unser Artikel in voriger Nummer zeigte, im ältesten Volks¬
küche Mephostophiles und bei dem Engländer Marlowe Mephistophiles heißt.
Die zuerst erwähnte Schreibart wurde also nicht durch Goethe, sondern durch
Lessing eittgeführt.

Es fragt sich nun, wie es verborgen bleiben konnte, daß Lessings "Johann
Faust" anonym gedruckt worden war, ohne daß der Dichter Kenntniß davon
erhalten hatte. Hier ist Nun erstens, wie Herr Engel meint, möglich, daß nnr
sehr wenige Exemplare gedruckt worden sind, und dann ist zu berücksichtigen,
daß der dermalige PostVerkehr das Werk viel langsamer verbreitete, als heut¬
zutage Bücher vertrieben werden. Auch konnte Lessings baldiger Tod und
das Erscheine" von Goethes Faust Ursache sein, daß das anonyme Büchlein
rasch der Vergessenheit anheimfiel. Nicht wohl zu glauben ist die Vermuthung
des Herausgebers unseres Stückes, daß "Lessing vielleicht selbst seinen zweiten
Faust anonym herausgegeben und dessen Existenz strenge verschwiegen habe."
Dagegen leuchtet es wohl mehr ein, wenn wir meinen, das Buch sei anonym
erschienen, weil das Manuskript gestohlen und dankt theilweise verändert worden,
und die Anonymität sei Ursache gewesen, daß es wenig betrachtet worden und
schnell vom Markte verschwunden sei.

Daß hinter dem Anonymus kein gewöhnliches Talent sich verbirgt, leuchtet
bei der Lektüre dieses Faust sogleich ein, wenn man über die ziemlich trivialen
Scenen im erstell Akt hinaus ist, wo Wagner als Kammerdiener auftritt, und
wo wir auf keinen Fall Lessing, sondern einen Ueberarbeiter des Lesstngschen
Stückes vor Uns haben, und mehrere Stellen enthalten hohe Schönheiten, wenn
uns auch das Ganze etwas schleppend und kalt vorkommt.

Der Titel lautet: "Johann Faust, ein allegorisches Drama von
fünf Aufzügen. Mit Genehmhaltung des churfürstlichen Bücherccnsurcol-
leginms. MüncheU 1775. Verlegts Johann Nepomuk Fritz. Ehurfürstl.
akadem. und bürgerlicher Buchhändler."

Wir kommen nun zum Inhalte des Stückes. Die Handlung fängt mit
dem frühen Morgen an, schließt mit der Mitternacht und geht in allen fünf


die Herausgabe desselben der weiteren Forschung zu Hülfe zu kommen." Daß
nur in ihm die zweite Bearbeitung Lessings (aller Wahrscheinlichkeit zufolge von
andrer Hand stark verändert) suchen müssen, scheint nicht gut zu bezweifeln;
denn von den oben angeführten Fragmenten, die zu der andern Bearbeitung
gehören, findet sich hier nichts, das Drama hat ferner den Habitus eines
„bürgerlichen Trauerspiels", wie Mendelssohn dasselbe 1755 bezeichnete, endlich
ist es außer der Schlußscene „ohne alle Teufelei", wie v. Gehler sich ausdrückt.
Wir heben mit dein Herausgeber noch hervor, daß der Name des bösen Geistes,
der Faust verführen will, hier zum ersten Male Mephistopheles geschrieben ist,
während er, wie unser Artikel in voriger Nummer zeigte, im ältesten Volks¬
küche Mephostophiles und bei dem Engländer Marlowe Mephistophiles heißt.
Die zuerst erwähnte Schreibart wurde also nicht durch Goethe, sondern durch
Lessing eittgeführt.

Es fragt sich nun, wie es verborgen bleiben konnte, daß Lessings „Johann
Faust" anonym gedruckt worden war, ohne daß der Dichter Kenntniß davon
erhalten hatte. Hier ist Nun erstens, wie Herr Engel meint, möglich, daß nnr
sehr wenige Exemplare gedruckt worden sind, und dann ist zu berücksichtigen,
daß der dermalige PostVerkehr das Werk viel langsamer verbreitete, als heut¬
zutage Bücher vertrieben werden. Auch konnte Lessings baldiger Tod und
das Erscheine» von Goethes Faust Ursache sein, daß das anonyme Büchlein
rasch der Vergessenheit anheimfiel. Nicht wohl zu glauben ist die Vermuthung
des Herausgebers unseres Stückes, daß „Lessing vielleicht selbst seinen zweiten
Faust anonym herausgegeben und dessen Existenz strenge verschwiegen habe."
Dagegen leuchtet es wohl mehr ein, wenn wir meinen, das Buch sei anonym
erschienen, weil das Manuskript gestohlen und dankt theilweise verändert worden,
und die Anonymität sei Ursache gewesen, daß es wenig betrachtet worden und
schnell vom Markte verschwunden sei.

Daß hinter dem Anonymus kein gewöhnliches Talent sich verbirgt, leuchtet
bei der Lektüre dieses Faust sogleich ein, wenn man über die ziemlich trivialen
Scenen im erstell Akt hinaus ist, wo Wagner als Kammerdiener auftritt, und
wo wir auf keinen Fall Lessing, sondern einen Ueberarbeiter des Lesstngschen
Stückes vor Uns haben, und mehrere Stellen enthalten hohe Schönheiten, wenn
uns auch das Ganze etwas schleppend und kalt vorkommt.

Der Titel lautet: „Johann Faust, ein allegorisches Drama von
fünf Aufzügen. Mit Genehmhaltung des churfürstlichen Bücherccnsurcol-
leginms. MüncheU 1775. Verlegts Johann Nepomuk Fritz. Ehurfürstl.
akadem. und bürgerlicher Buchhändler."

Wir kommen nun zum Inhalte des Stückes. Die Handlung fängt mit
dem frühen Morgen an, schließt mit der Mitternacht und geht in allen fünf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/454>, abgerufen am 23.07.2024.