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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Hundert Jahre waren seit dem Verluste der Lessingschen Bücherkiste ver¬
flösse", als das "Wiener Jllustrirte Musik- und Theaterjonrnal" im Oktober
1875 einen Aufsatz von A. Roueourt brachte, welcher "Eine Spur von Lessings
Faust" überschrieben war, und in welchem es u. A. hieß:

"Vor Kurzem machte mir mein geehrter Freund, Herr Ernst Theodor
Kretschmar, die überraschende Mittheilung, daß er in einem alten Theater¬
kalender ans Lessings Faust gestoßen sei, der in einem Städtchen an der Donau
um das Jahr 1779 herum aufgeführt worden wäre. Nach beiderseitig an¬
gestellten Suchen in dem alten Werke fand ich in der That die berührte Stelle.
Der von Reichard herausgegebene "Theaterkalender auf das Jahr 1779"
(Gotha bei C. W. Etlinger) enthält in dem "Verzeichniß einiger in- und aus¬
ländischen Theatergesellschaften" mehrere Daten über die After- und Jlgnersche
Gesellschaft, deren Aufenthalt sich damals ans Neuburg an der Donau, Weißen¬
burg im Nordgau, Nördlingen und Oettingen im Rieß und Dinkelsbühl er¬
streckte. In dem angeführten Personalverzeichnisse nun erscheint als Debütant
Herr Waldherr mit Mephistophiles in Lessings Faust. Herr
Waldherr muß nicht gefallen haben; denn er verließ die Gesellschaft noch im
selben Jahre. Ueber letztere wird in demselben Buche auf Seite 108 Folgendes
angeführt: Die Ambergsche Gesellschaft, die in Pommern herumzog, wurde zu
Stralsund, als sie sich nicht mehr halten konnte, von einer Entreprise über¬
nommen, die aber 1776 zu Grunde ging, worauf die Gesellschaft sich trennte.
Reymann begab sich mit dem Reste nach Rostock und vereinigte sich dort mit
der Jlgnerschen Gesellschaft, die im Juli 1777 nach Stralsund kam, sich aber
daselbst durch den Abgang ihrer besten Mitglieder verschlimmerte und sich gegen¬
wärtig in den kleinen Städten Mecklenburgs herumtreibt. Auf Seite 160
endlich befindet sich unter dem "Verzeichniß der vom Jahre 1770 an im Druck
erschienenen deutschen Schauspiele und anderer theatralischer Arbeiten" ein alle¬
gorisches Drama "Johann Faust", München 1775, angeführt. Bei der an¬
erkannten Gründlichkeit des Reinhartschen Theaterkalenders glaubten wir unsere
Beobachtungen um so eher einem weiteren Kreise mittheilen zu sollen, als
unseres Wissens dieselben bisher in keinem andern Werke konstatirt wurden,
und weil sie vielleicht berufenere literarische Kräfte zu einer weitern Forschung
nach dem theuer" Schatze veranlassen können."

Herr Engel hat sich nun lange Zeit vergebens bemüht, diesen Johann Faust,
in welchem der zweite Lessingsche vermuthet wird, zu erlangen, endlich aber, als
er schon alle Hoffnung aufgegeben, ein Exemplar des seltenen Buches, wie er glaubt,
gefunden, und zwar bei einer Auktion in Leipzig, wo er es erwarb, als Dorer-
Egloffs Bibliothek versteigert wurde. Er sieht es für ein Unikum an, und
so übergibt er es hier der Oeffentlichkeit, "es für heilige Pflicht haltend, dnrch


Hundert Jahre waren seit dem Verluste der Lessingschen Bücherkiste ver¬
flösse«, als das „Wiener Jllustrirte Musik- und Theaterjonrnal" im Oktober
1875 einen Aufsatz von A. Roueourt brachte, welcher „Eine Spur von Lessings
Faust" überschrieben war, und in welchem es u. A. hieß:

„Vor Kurzem machte mir mein geehrter Freund, Herr Ernst Theodor
Kretschmar, die überraschende Mittheilung, daß er in einem alten Theater¬
kalender ans Lessings Faust gestoßen sei, der in einem Städtchen an der Donau
um das Jahr 1779 herum aufgeführt worden wäre. Nach beiderseitig an¬
gestellten Suchen in dem alten Werke fand ich in der That die berührte Stelle.
Der von Reichard herausgegebene „Theaterkalender auf das Jahr 1779"
(Gotha bei C. W. Etlinger) enthält in dem „Verzeichniß einiger in- und aus¬
ländischen Theatergesellschaften" mehrere Daten über die After- und Jlgnersche
Gesellschaft, deren Aufenthalt sich damals ans Neuburg an der Donau, Weißen¬
burg im Nordgau, Nördlingen und Oettingen im Rieß und Dinkelsbühl er¬
streckte. In dem angeführten Personalverzeichnisse nun erscheint als Debütant
Herr Waldherr mit Mephistophiles in Lessings Faust. Herr
Waldherr muß nicht gefallen haben; denn er verließ die Gesellschaft noch im
selben Jahre. Ueber letztere wird in demselben Buche auf Seite 108 Folgendes
angeführt: Die Ambergsche Gesellschaft, die in Pommern herumzog, wurde zu
Stralsund, als sie sich nicht mehr halten konnte, von einer Entreprise über¬
nommen, die aber 1776 zu Grunde ging, worauf die Gesellschaft sich trennte.
Reymann begab sich mit dem Reste nach Rostock und vereinigte sich dort mit
der Jlgnerschen Gesellschaft, die im Juli 1777 nach Stralsund kam, sich aber
daselbst durch den Abgang ihrer besten Mitglieder verschlimmerte und sich gegen¬
wärtig in den kleinen Städten Mecklenburgs herumtreibt. Auf Seite 160
endlich befindet sich unter dem „Verzeichniß der vom Jahre 1770 an im Druck
erschienenen deutschen Schauspiele und anderer theatralischer Arbeiten" ein alle¬
gorisches Drama „Johann Faust", München 1775, angeführt. Bei der an¬
erkannten Gründlichkeit des Reinhartschen Theaterkalenders glaubten wir unsere
Beobachtungen um so eher einem weiteren Kreise mittheilen zu sollen, als
unseres Wissens dieselben bisher in keinem andern Werke konstatirt wurden,
und weil sie vielleicht berufenere literarische Kräfte zu einer weitern Forschung
nach dem theuer» Schatze veranlassen können."

Herr Engel hat sich nun lange Zeit vergebens bemüht, diesen Johann Faust,
in welchem der zweite Lessingsche vermuthet wird, zu erlangen, endlich aber, als
er schon alle Hoffnung aufgegeben, ein Exemplar des seltenen Buches, wie er glaubt,
gefunden, und zwar bei einer Auktion in Leipzig, wo er es erwarb, als Dorer-
Egloffs Bibliothek versteigert wurde. Er sieht es für ein Unikum an, und
so übergibt er es hier der Oeffentlichkeit, „es für heilige Pflicht haltend, dnrch


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[0453] Hundert Jahre waren seit dem Verluste der Lessingschen Bücherkiste ver¬ flösse«, als das „Wiener Jllustrirte Musik- und Theaterjonrnal" im Oktober 1875 einen Aufsatz von A. Roueourt brachte, welcher „Eine Spur von Lessings Faust" überschrieben war, und in welchem es u. A. hieß: „Vor Kurzem machte mir mein geehrter Freund, Herr Ernst Theodor Kretschmar, die überraschende Mittheilung, daß er in einem alten Theater¬ kalender ans Lessings Faust gestoßen sei, der in einem Städtchen an der Donau um das Jahr 1779 herum aufgeführt worden wäre. Nach beiderseitig an¬ gestellten Suchen in dem alten Werke fand ich in der That die berührte Stelle. Der von Reichard herausgegebene „Theaterkalender auf das Jahr 1779" (Gotha bei C. W. Etlinger) enthält in dem „Verzeichniß einiger in- und aus¬ ländischen Theatergesellschaften" mehrere Daten über die After- und Jlgnersche Gesellschaft, deren Aufenthalt sich damals ans Neuburg an der Donau, Weißen¬ burg im Nordgau, Nördlingen und Oettingen im Rieß und Dinkelsbühl er¬ streckte. In dem angeführten Personalverzeichnisse nun erscheint als Debütant Herr Waldherr mit Mephistophiles in Lessings Faust. Herr Waldherr muß nicht gefallen haben; denn er verließ die Gesellschaft noch im selben Jahre. Ueber letztere wird in demselben Buche auf Seite 108 Folgendes angeführt: Die Ambergsche Gesellschaft, die in Pommern herumzog, wurde zu Stralsund, als sie sich nicht mehr halten konnte, von einer Entreprise über¬ nommen, die aber 1776 zu Grunde ging, worauf die Gesellschaft sich trennte. Reymann begab sich mit dem Reste nach Rostock und vereinigte sich dort mit der Jlgnerschen Gesellschaft, die im Juli 1777 nach Stralsund kam, sich aber daselbst durch den Abgang ihrer besten Mitglieder verschlimmerte und sich gegen¬ wärtig in den kleinen Städten Mecklenburgs herumtreibt. Auf Seite 160 endlich befindet sich unter dem „Verzeichniß der vom Jahre 1770 an im Druck erschienenen deutschen Schauspiele und anderer theatralischer Arbeiten" ein alle¬ gorisches Drama „Johann Faust", München 1775, angeführt. Bei der an¬ erkannten Gründlichkeit des Reinhartschen Theaterkalenders glaubten wir unsere Beobachtungen um so eher einem weiteren Kreise mittheilen zu sollen, als unseres Wissens dieselben bisher in keinem andern Werke konstatirt wurden, und weil sie vielleicht berufenere literarische Kräfte zu einer weitern Forschung nach dem theuer» Schatze veranlassen können." Herr Engel hat sich nun lange Zeit vergebens bemüht, diesen Johann Faust, in welchem der zweite Lessingsche vermuthet wird, zu erlangen, endlich aber, als er schon alle Hoffnung aufgegeben, ein Exemplar des seltenen Buches, wie er glaubt, gefunden, und zwar bei einer Auktion in Leipzig, wo er es erwarb, als Dorer- Egloffs Bibliothek versteigert wurde. Er sieht es für ein Unikum an, und so übergibt er es hier der Oeffentlichkeit, „es für heilige Pflicht haltend, dnrch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/453>, abgerufen am 23.07.2024.