Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Mord verführt zu haben. Dies gibt Gelegenheit, von Faust zu sprechen,
der nicht so leicht zu verführen sein möchte. Aber jener dritte Teufel macht
sich anheischig, ihn binnen vierundzwanzig Stunden der Hölle zu überliefern.
Jetzt, sagt der eine der bösen Geister, sitzt er noch bei der nächtlichen Lampe
und forscht in den Tiefen der Wahrheit. Zuviel Wißbegierde ist ein Fehler,
und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr
nachhängt. Nach diesem Satze entwirft der Teufel, der Faust verführen will,
seinen Plan. Im ersten Auftritt des ersten Akts schlägt Faust sich vor seiner
Studirlampe mit verschiedenen Zweifeln der Scholastik herum. Dabei erinnert
er sich, daß ein Gelehrter den Teufel citirt haben soll, um von ihm Aufschluß
über die Entelechie des Aristoteles zu erhalten. Auch er hat das schon oft,
aber stets vergeblich versucht. Er versucht es jetzt uoch einmal, und siehe da,
es gelingt diesmal. Ein Geist, der einen langen Bart trägt und in einen
Mantel gehüllt ist, steigt aus dem Boden. Derselbe stellt sich zuerst, als ob
er, eben aus tiefem Schlummer erwacht, sich besinnen müsse, wo er einst auf
Erden gewesen, und will schließlich Aristoteles selbst sein. In Wahrheit aber
ist er der Teufel, der Faust zu verführen unternommen hat. Er "antwortet
auf die spitzigsten Fragen. Doch, sagt er endlich, ich bin es müde, meinen
Verstand in die vorigen Schranken zurückzuzwingen. Von allem, was Du
mich fragst, mag ich nicht länger reden als ein Mensch und kann nicht mit
Dir reden als ein Geist. Entlaß mich, ich fühl' es, daß ich wieder ent¬
schlummere." Vom dritten und vierten Auftritt enthält dieser Entwurf nur
ein paar Zeilen, in denen Faust einen Dämon beschwört, welcher mit den
Worten erscheint: "Wer ist der Mächtige, dessen Ruf ich gehorchen muß? Du?
Ein Sterblicher? Wer lehrte Dich diese gewaltigen Worte?"

Das ist alles, was wir von dieser Bearbeitung der Faustsage durch Lessing
wissen. Von seinem zweiten Faust war bisher aber fast nichts bekannt, als
daß er existirt und daß er "ohne alle Teufelei" gewesen. Daß er gar keinen
Mephistopheles gehabt, ist daraus nicht wohl zu schließen; denn ohne den wäre
er eben kein Faust gewesen. Der Ausdruck in dem Briefe v. Geblers "ohne
alle Teufelei" hatte, wie der Herausgeber unsrer Schrift vermuthet, und wie
anch uns plausibel erscheint, nur die Bedeutung, daß diese zweite Bearbeitung
im Gegensatze zur ersten von allen Teufels - Spektakelscenen absehen, in der
Behandlung des Stoffes von der bisherigen Weise vollständig abweichen und
mehr das Ansehen eines bürgerlichen Trauerspiels erhalten sollte. Sonst blieb
es über diesen Lessingschen Faust ganz still und dunkel, und wenn ein un¬
bestimmtes Gerücht spukte, derselbe sei anonym erschienen, so war es eben nur
Gerücht, über welches nichts weiter an die Oeffentlichkeit kam.


und Mord verführt zu haben. Dies gibt Gelegenheit, von Faust zu sprechen,
der nicht so leicht zu verführen sein möchte. Aber jener dritte Teufel macht
sich anheischig, ihn binnen vierundzwanzig Stunden der Hölle zu überliefern.
Jetzt, sagt der eine der bösen Geister, sitzt er noch bei der nächtlichen Lampe
und forscht in den Tiefen der Wahrheit. Zuviel Wißbegierde ist ein Fehler,
und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr
nachhängt. Nach diesem Satze entwirft der Teufel, der Faust verführen will,
seinen Plan. Im ersten Auftritt des ersten Akts schlägt Faust sich vor seiner
Studirlampe mit verschiedenen Zweifeln der Scholastik herum. Dabei erinnert
er sich, daß ein Gelehrter den Teufel citirt haben soll, um von ihm Aufschluß
über die Entelechie des Aristoteles zu erhalten. Auch er hat das schon oft,
aber stets vergeblich versucht. Er versucht es jetzt uoch einmal, und siehe da,
es gelingt diesmal. Ein Geist, der einen langen Bart trägt und in einen
Mantel gehüllt ist, steigt aus dem Boden. Derselbe stellt sich zuerst, als ob
er, eben aus tiefem Schlummer erwacht, sich besinnen müsse, wo er einst auf
Erden gewesen, und will schließlich Aristoteles selbst sein. In Wahrheit aber
ist er der Teufel, der Faust zu verführen unternommen hat. Er „antwortet
auf die spitzigsten Fragen. Doch, sagt er endlich, ich bin es müde, meinen
Verstand in die vorigen Schranken zurückzuzwingen. Von allem, was Du
mich fragst, mag ich nicht länger reden als ein Mensch und kann nicht mit
Dir reden als ein Geist. Entlaß mich, ich fühl' es, daß ich wieder ent¬
schlummere." Vom dritten und vierten Auftritt enthält dieser Entwurf nur
ein paar Zeilen, in denen Faust einen Dämon beschwört, welcher mit den
Worten erscheint: „Wer ist der Mächtige, dessen Ruf ich gehorchen muß? Du?
Ein Sterblicher? Wer lehrte Dich diese gewaltigen Worte?"

Das ist alles, was wir von dieser Bearbeitung der Faustsage durch Lessing
wissen. Von seinem zweiten Faust war bisher aber fast nichts bekannt, als
daß er existirt und daß er „ohne alle Teufelei" gewesen. Daß er gar keinen
Mephistopheles gehabt, ist daraus nicht wohl zu schließen; denn ohne den wäre
er eben kein Faust gewesen. Der Ausdruck in dem Briefe v. Geblers „ohne
alle Teufelei" hatte, wie der Herausgeber unsrer Schrift vermuthet, und wie
anch uns plausibel erscheint, nur die Bedeutung, daß diese zweite Bearbeitung
im Gegensatze zur ersten von allen Teufels - Spektakelscenen absehen, in der
Behandlung des Stoffes von der bisherigen Weise vollständig abweichen und
mehr das Ansehen eines bürgerlichen Trauerspiels erhalten sollte. Sonst blieb
es über diesen Lessingschen Faust ganz still und dunkel, und wenn ein un¬
bestimmtes Gerücht spukte, derselbe sei anonym erschienen, so war es eben nur
Gerücht, über welches nichts weiter an die Oeffentlichkeit kam.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137625"/>
          <p xml:id="ID_1478" prev="#ID_1477"> und Mord verführt zu haben.  Dies gibt Gelegenheit, von Faust zu sprechen,<lb/>
der nicht so leicht zu verführen sein möchte. Aber jener dritte Teufel macht<lb/>
sich anheischig, ihn binnen vierundzwanzig Stunden der Hölle zu überliefern.<lb/>
Jetzt, sagt der eine der bösen Geister, sitzt er noch bei der nächtlichen Lampe<lb/>
und forscht in den Tiefen der Wahrheit. Zuviel Wißbegierde ist ein Fehler,<lb/>
und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr<lb/>
nachhängt. Nach diesem Satze entwirft der Teufel, der Faust verführen will,<lb/>
seinen Plan. Im ersten Auftritt des ersten Akts schlägt Faust sich vor seiner<lb/>
Studirlampe mit verschiedenen Zweifeln der Scholastik herum.  Dabei erinnert<lb/>
er sich, daß ein Gelehrter den Teufel citirt haben soll, um von ihm Aufschluß<lb/>
über die Entelechie des Aristoteles zu erhalten.  Auch er hat das schon oft,<lb/>
aber stets vergeblich versucht. Er versucht es jetzt uoch einmal, und siehe da,<lb/>
es gelingt diesmal.  Ein Geist, der einen langen Bart trägt und in einen<lb/>
Mantel gehüllt ist, steigt aus dem Boden. Derselbe stellt sich zuerst, als ob<lb/>
er, eben aus tiefem Schlummer erwacht, sich besinnen müsse, wo er einst auf<lb/>
Erden gewesen, und will schließlich Aristoteles selbst sein. In Wahrheit aber<lb/>
ist er der Teufel, der Faust zu verführen unternommen hat.  Er &#x201E;antwortet<lb/>
auf die spitzigsten Fragen. Doch, sagt er endlich, ich bin es müde, meinen<lb/>
Verstand in die vorigen Schranken zurückzuzwingen. Von allem, was Du<lb/>
mich fragst, mag ich nicht länger reden als ein Mensch und kann nicht mit<lb/>
Dir reden als ein Geist. Entlaß mich, ich fühl' es, daß ich wieder ent¬<lb/>
schlummere."  Vom dritten und vierten Auftritt enthält dieser Entwurf nur<lb/>
ein paar Zeilen, in denen Faust einen Dämon beschwört, welcher mit den<lb/>
Worten erscheint: &#x201E;Wer ist der Mächtige, dessen Ruf ich gehorchen muß? Du?<lb/>
Ein Sterblicher? Wer lehrte Dich diese gewaltigen Worte?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1479"> Das ist alles, was wir von dieser Bearbeitung der Faustsage durch Lessing<lb/>
wissen. Von seinem zweiten Faust war bisher aber fast nichts bekannt, als<lb/>
daß er existirt und daß er &#x201E;ohne alle Teufelei" gewesen. Daß er gar keinen<lb/>
Mephistopheles gehabt, ist daraus nicht wohl zu schließen; denn ohne den wäre<lb/>
er eben kein Faust gewesen. Der Ausdruck in dem Briefe v. Geblers &#x201E;ohne<lb/>
alle Teufelei" hatte, wie der Herausgeber unsrer Schrift vermuthet, und wie<lb/>
anch uns plausibel erscheint, nur die Bedeutung, daß diese zweite Bearbeitung<lb/>
im Gegensatze zur ersten von allen Teufels - Spektakelscenen absehen, in der<lb/>
Behandlung des Stoffes von der bisherigen Weise vollständig abweichen und<lb/>
mehr das Ansehen eines bürgerlichen Trauerspiels erhalten sollte. Sonst blieb<lb/>
es über diesen Lessingschen Faust ganz still und dunkel, und wenn ein un¬<lb/>
bestimmtes Gerücht spukte, derselbe sei anonym erschienen, so war es eben nur<lb/>
Gerücht, über welches nichts weiter an die Oeffentlichkeit kam.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0452] und Mord verführt zu haben. Dies gibt Gelegenheit, von Faust zu sprechen, der nicht so leicht zu verführen sein möchte. Aber jener dritte Teufel macht sich anheischig, ihn binnen vierundzwanzig Stunden der Hölle zu überliefern. Jetzt, sagt der eine der bösen Geister, sitzt er noch bei der nächtlichen Lampe und forscht in den Tiefen der Wahrheit. Zuviel Wißbegierde ist ein Fehler, und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr nachhängt. Nach diesem Satze entwirft der Teufel, der Faust verführen will, seinen Plan. Im ersten Auftritt des ersten Akts schlägt Faust sich vor seiner Studirlampe mit verschiedenen Zweifeln der Scholastik herum. Dabei erinnert er sich, daß ein Gelehrter den Teufel citirt haben soll, um von ihm Aufschluß über die Entelechie des Aristoteles zu erhalten. Auch er hat das schon oft, aber stets vergeblich versucht. Er versucht es jetzt uoch einmal, und siehe da, es gelingt diesmal. Ein Geist, der einen langen Bart trägt und in einen Mantel gehüllt ist, steigt aus dem Boden. Derselbe stellt sich zuerst, als ob er, eben aus tiefem Schlummer erwacht, sich besinnen müsse, wo er einst auf Erden gewesen, und will schließlich Aristoteles selbst sein. In Wahrheit aber ist er der Teufel, der Faust zu verführen unternommen hat. Er „antwortet auf die spitzigsten Fragen. Doch, sagt er endlich, ich bin es müde, meinen Verstand in die vorigen Schranken zurückzuzwingen. Von allem, was Du mich fragst, mag ich nicht länger reden als ein Mensch und kann nicht mit Dir reden als ein Geist. Entlaß mich, ich fühl' es, daß ich wieder ent¬ schlummere." Vom dritten und vierten Auftritt enthält dieser Entwurf nur ein paar Zeilen, in denen Faust einen Dämon beschwört, welcher mit den Worten erscheint: „Wer ist der Mächtige, dessen Ruf ich gehorchen muß? Du? Ein Sterblicher? Wer lehrte Dich diese gewaltigen Worte?" Das ist alles, was wir von dieser Bearbeitung der Faustsage durch Lessing wissen. Von seinem zweiten Faust war bisher aber fast nichts bekannt, als daß er existirt und daß er „ohne alle Teufelei" gewesen. Daß er gar keinen Mephistopheles gehabt, ist daraus nicht wohl zu schließen; denn ohne den wäre er eben kein Faust gewesen. Der Ausdruck in dem Briefe v. Geblers „ohne alle Teufelei" hatte, wie der Herausgeber unsrer Schrift vermuthet, und wie anch uns plausibel erscheint, nur die Bedeutung, daß diese zweite Bearbeitung im Gegensatze zur ersten von allen Teufels - Spektakelscenen absehen, in der Behandlung des Stoffes von der bisherigen Weise vollständig abweichen und mehr das Ansehen eines bürgerlichen Trauerspiels erhalten sollte. Sonst blieb es über diesen Lessingschen Faust ganz still und dunkel, und wenn ein un¬ bestimmtes Gerücht spukte, derselbe sei anonym erschienen, so war es eben nur Gerücht, über welches nichts weiter an die Oeffentlichkeit kam.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/452
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/452>, abgerufen am 23.07.2024.