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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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anfangs vom 1. Januar auf den 1. April vorgenommen, um die Möglichkeit
der Einhaltung der verfassungsmäßigen Frist zur Vereinbarung des Etats
über allen Zweifel zu stellen. Jetzt hat es stark den Anschein, als sollte bei
der praktischen Durchführung dieser Neuerung zum ersten Male im Reich das
rechtzeitige Zustandekommen des Etats nicht gelingen.

Vergebens fragt man sich, wie die Reichsregierung einen solchen Fehler
begehen konnte. Die Entschuldigungen, welche der Präsident des Neichskanzler-
amts vorbrachte, waren überaus lahm und gar nicht stichhaltig. War es für
die betreffenden Kräfte infolge der durch die Aufstellung des Etats für das
erste Vierteljahr 1877 verursachten Mühe schlechterdings unmöglich, den neuen
Jahresetat früher, als es geschehen, zum Abschluß zu bringen, so mußte der
Reichstag später einberufen werden. Wenn Herr Hofmann dagegen einwendet,
der Reichstag selbst habe ja wiederholt den dringenden Wunsch ausgesprochen,
so frühzeitig wie möglich einberufen zu werden, so ist es schwer, solcher Argn-
mentationsweise gegenüber ernst zu bleiben. Allerdings wünscht der Reichstag
eine möglichst frühzeitige Berufung, aber um zu arbeiten, nicht um in Berlin
spazieren zu gehen. -- Wie die Dinge jetzt liegen, wird man von großem
Glück sagen können, wenn die anfangs vermiedene Beschlußnnfähigkeit nicht
nunmehr bei der eigentlichen Aufnahme der Arbeiten sich einstellt.

Einen Anlauf zu einer sachlichen Debatte nahm der Reichstag bei der
ersten Berathung des Patentgesetzes. Der sächsische Hofrath Ackermann schien
nach seiner neulichen Metamorphose das Bedürfniß zu fühlen, sich als "Deutsch¬
konservativer" zu legitimiren; er feierte den vorliegenden Entwurf als den
Beginn einer grundsätzlichen Umkehr von der bisherigen Bahn der Wirthschafts¬
politik. Es war nicht schwer, ihm seine Illusion zu zerstören. Nicht minder
unglücklich war Herr v. Kardorf, der aufs neue fein Schutzzollsystem als
unfehlbares Mittel gegen alle sozialen Schmerzen anpries. Von dem Patent¬
wesen selbst, sowohl von der prinzipiellen Streitfrage seiner volkswirtschaftlichen
Nützlichkeit oder Schädlichkeit, wie von den zahlreichen Einzelkontroversen,
wurde möglichst wenig gesprochen; nur Richter (Hagen) trat als Gegner alles
Patentschutzes auf, steht aber darin fast ganz allein. Daß die starren Manchester¬
doktrinäre im Reichstage gewaltig zusammengeschmolzen sind, haben bereits
in der vorigen Legislaturperiode die Gesetze über den Marken- und den Muster¬
schutz gezeigt. Es ist kein Zweifel, daß das Patentgesetz in der gegenwärtigen
Session zu Stande kommt. Doch wird man gut thun, nicht allzu große
Hoffnungen darauf zu setzen. Seine wohlthätige Wirksamkeit kann naturgemäß
erst nach längerer Dauer empfunden werden; es ist nur ein Glied in der
Kette von Maßregeln, welche zur Hebung der Industrie in Anwendung ge-


anfangs vom 1. Januar auf den 1. April vorgenommen, um die Möglichkeit
der Einhaltung der verfassungsmäßigen Frist zur Vereinbarung des Etats
über allen Zweifel zu stellen. Jetzt hat es stark den Anschein, als sollte bei
der praktischen Durchführung dieser Neuerung zum ersten Male im Reich das
rechtzeitige Zustandekommen des Etats nicht gelingen.

Vergebens fragt man sich, wie die Reichsregierung einen solchen Fehler
begehen konnte. Die Entschuldigungen, welche der Präsident des Neichskanzler-
amts vorbrachte, waren überaus lahm und gar nicht stichhaltig. War es für
die betreffenden Kräfte infolge der durch die Aufstellung des Etats für das
erste Vierteljahr 1877 verursachten Mühe schlechterdings unmöglich, den neuen
Jahresetat früher, als es geschehen, zum Abschluß zu bringen, so mußte der
Reichstag später einberufen werden. Wenn Herr Hofmann dagegen einwendet,
der Reichstag selbst habe ja wiederholt den dringenden Wunsch ausgesprochen,
so frühzeitig wie möglich einberufen zu werden, so ist es schwer, solcher Argn-
mentationsweise gegenüber ernst zu bleiben. Allerdings wünscht der Reichstag
eine möglichst frühzeitige Berufung, aber um zu arbeiten, nicht um in Berlin
spazieren zu gehen. — Wie die Dinge jetzt liegen, wird man von großem
Glück sagen können, wenn die anfangs vermiedene Beschlußnnfähigkeit nicht
nunmehr bei der eigentlichen Aufnahme der Arbeiten sich einstellt.

Einen Anlauf zu einer sachlichen Debatte nahm der Reichstag bei der
ersten Berathung des Patentgesetzes. Der sächsische Hofrath Ackermann schien
nach seiner neulichen Metamorphose das Bedürfniß zu fühlen, sich als „Deutsch¬
konservativer" zu legitimiren; er feierte den vorliegenden Entwurf als den
Beginn einer grundsätzlichen Umkehr von der bisherigen Bahn der Wirthschafts¬
politik. Es war nicht schwer, ihm seine Illusion zu zerstören. Nicht minder
unglücklich war Herr v. Kardorf, der aufs neue fein Schutzzollsystem als
unfehlbares Mittel gegen alle sozialen Schmerzen anpries. Von dem Patent¬
wesen selbst, sowohl von der prinzipiellen Streitfrage seiner volkswirtschaftlichen
Nützlichkeit oder Schädlichkeit, wie von den zahlreichen Einzelkontroversen,
wurde möglichst wenig gesprochen; nur Richter (Hagen) trat als Gegner alles
Patentschutzes auf, steht aber darin fast ganz allein. Daß die starren Manchester¬
doktrinäre im Reichstage gewaltig zusammengeschmolzen sind, haben bereits
in der vorigen Legislaturperiode die Gesetze über den Marken- und den Muster¬
schutz gezeigt. Es ist kein Zweifel, daß das Patentgesetz in der gegenwärtigen
Session zu Stande kommt. Doch wird man gut thun, nicht allzu große
Hoffnungen darauf zu setzen. Seine wohlthätige Wirksamkeit kann naturgemäß
erst nach längerer Dauer empfunden werden; es ist nur ein Glied in der
Kette von Maßregeln, welche zur Hebung der Industrie in Anwendung ge-


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[0443] anfangs vom 1. Januar auf den 1. April vorgenommen, um die Möglichkeit der Einhaltung der verfassungsmäßigen Frist zur Vereinbarung des Etats über allen Zweifel zu stellen. Jetzt hat es stark den Anschein, als sollte bei der praktischen Durchführung dieser Neuerung zum ersten Male im Reich das rechtzeitige Zustandekommen des Etats nicht gelingen. Vergebens fragt man sich, wie die Reichsregierung einen solchen Fehler begehen konnte. Die Entschuldigungen, welche der Präsident des Neichskanzler- amts vorbrachte, waren überaus lahm und gar nicht stichhaltig. War es für die betreffenden Kräfte infolge der durch die Aufstellung des Etats für das erste Vierteljahr 1877 verursachten Mühe schlechterdings unmöglich, den neuen Jahresetat früher, als es geschehen, zum Abschluß zu bringen, so mußte der Reichstag später einberufen werden. Wenn Herr Hofmann dagegen einwendet, der Reichstag selbst habe ja wiederholt den dringenden Wunsch ausgesprochen, so frühzeitig wie möglich einberufen zu werden, so ist es schwer, solcher Argn- mentationsweise gegenüber ernst zu bleiben. Allerdings wünscht der Reichstag eine möglichst frühzeitige Berufung, aber um zu arbeiten, nicht um in Berlin spazieren zu gehen. — Wie die Dinge jetzt liegen, wird man von großem Glück sagen können, wenn die anfangs vermiedene Beschlußnnfähigkeit nicht nunmehr bei der eigentlichen Aufnahme der Arbeiten sich einstellt. Einen Anlauf zu einer sachlichen Debatte nahm der Reichstag bei der ersten Berathung des Patentgesetzes. Der sächsische Hofrath Ackermann schien nach seiner neulichen Metamorphose das Bedürfniß zu fühlen, sich als „Deutsch¬ konservativer" zu legitimiren; er feierte den vorliegenden Entwurf als den Beginn einer grundsätzlichen Umkehr von der bisherigen Bahn der Wirthschafts¬ politik. Es war nicht schwer, ihm seine Illusion zu zerstören. Nicht minder unglücklich war Herr v. Kardorf, der aufs neue fein Schutzzollsystem als unfehlbares Mittel gegen alle sozialen Schmerzen anpries. Von dem Patent¬ wesen selbst, sowohl von der prinzipiellen Streitfrage seiner volkswirtschaftlichen Nützlichkeit oder Schädlichkeit, wie von den zahlreichen Einzelkontroversen, wurde möglichst wenig gesprochen; nur Richter (Hagen) trat als Gegner alles Patentschutzes auf, steht aber darin fast ganz allein. Daß die starren Manchester¬ doktrinäre im Reichstage gewaltig zusammengeschmolzen sind, haben bereits in der vorigen Legislaturperiode die Gesetze über den Marken- und den Muster¬ schutz gezeigt. Es ist kein Zweifel, daß das Patentgesetz in der gegenwärtigen Session zu Stande kommt. Doch wird man gut thun, nicht allzu große Hoffnungen darauf zu setzen. Seine wohlthätige Wirksamkeit kann naturgemäß erst nach längerer Dauer empfunden werden; es ist nur ein Glied in der Kette von Maßregeln, welche zur Hebung der Industrie in Anwendung ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/443>, abgerufen am 23.07.2024.