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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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drehe sich ein Kreisel oder ein Rad um seine Achse; die Kreise nehmen zu, er¬
weitern sich, vermischen sich; ohne daß ein Schritt weit leerer Raum da wäre,
entsteht eine Vorwärtsbewegung, erst an einer Seite, dann an der anderen,
dann ringsnm; wer nicht mit will, wird an die Seite gedrängt oder in der
Mitte zusammengepreßt; und so bildet sich allmählich ein länglicher, brausender
Wirbelstrom, ein fortwogender Kreislauf, wobei zuletzt niemand mehr tanzt,
kein Paar sich dreht, wobei Jedes nur vorwärts drängt und gedrängt wird,
immer schneller, immer rasender, unter Lachen, Jubeln, Schreien, Pfeifen,
Blasen, Trommeln, Klappern, Rasseln, unter den ruckweisen Stößen der
Musikanten, ohne daß man bemerkt, ob diese die Renner oder die Rennenden
die Musik fortreißen, immer wilder, wüster, wälzender, daß dem Zuschauer das
Hirn wirbelt und der Musik der Athem ausgeht. Sie schweigt. Aber wie
das Chaos ihr Beginnen nicht vernahm, so wird es sich auch des Aufhörens
der Tone nicht bewußt. Noch lange braust der rasende Strudel fort; nur
nach und nach legt sich die tobende Sturmfluth zu eurem wogenden Rauschen
oder rollenden Gemurmel zusammen. Der Anschein von Ruhe dauert aber
uicht zwei Minuten. Statt der sich ausruhenden Musik wird gepfiffen, ge¬
sungen und dazu wohl hundert Mal auf demselben Flecke, ohne Wechsel und
Unterlaß gesprungen. Als der Verfasser diesem Balle als Zuschauer beiwohnte,
wurden unausgesetzt die letzten Worte eines Liedes gesungen, welche lauteten:
Wer uicht drehn sich will, der steh' still. Bemerkeuswerth ist, daß nach Zeug¬
niß des Verfassers keine uuanstündige oder ungezogene Handlung und kein
Streit vorkommt, sowie daß nirgends eine Spur von Polizei zu fin¬
den war.

Einem solchen Volksleben, so derb es sich auch kundgibt, können wir
unsere Sympathie nicht versagen, denn dieser mächtige Drang nach Vereinigung
läßt auf ein für den Staat heilsames Gefühl der Selbständigkeit und Zusam¬
mengehörigkeit schließen.

Im Kapitel der "Städtebilder" macht uns der Verfasser mit der Geschichte,
der Oertlichkeit und den Bewohnern von Mecheln, Brügge und Gent bekannt.
Der glänzende Festzug zieht an uns vorüber, der 1849 zur Einweihung des
Denkmals Margarethens von Oesterreich in Mecheln stattfand, und wir ver¬
nehmen von dem wunderbaren Umzüge der hohen Gelenkpnppe Op. Signorken
daselbst. Brügge wird als eine Stadt mit vielen Reizen stiller Schönheit ge¬
schildert, und vornehmlich werden wir mit Gent, wo der Verfasser einen Winter
über lebte, und deu Beginenhöfen bekamt gemacht. Ein umfangreiches Kapitel
ist der Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet. Hier wird von dem Schnitz-
werk eines alten Kamins im Brügger Gerichtsgebüude, dem Maler Hans


drehe sich ein Kreisel oder ein Rad um seine Achse; die Kreise nehmen zu, er¬
weitern sich, vermischen sich; ohne daß ein Schritt weit leerer Raum da wäre,
entsteht eine Vorwärtsbewegung, erst an einer Seite, dann an der anderen,
dann ringsnm; wer nicht mit will, wird an die Seite gedrängt oder in der
Mitte zusammengepreßt; und so bildet sich allmählich ein länglicher, brausender
Wirbelstrom, ein fortwogender Kreislauf, wobei zuletzt niemand mehr tanzt,
kein Paar sich dreht, wobei Jedes nur vorwärts drängt und gedrängt wird,
immer schneller, immer rasender, unter Lachen, Jubeln, Schreien, Pfeifen,
Blasen, Trommeln, Klappern, Rasseln, unter den ruckweisen Stößen der
Musikanten, ohne daß man bemerkt, ob diese die Renner oder die Rennenden
die Musik fortreißen, immer wilder, wüster, wälzender, daß dem Zuschauer das
Hirn wirbelt und der Musik der Athem ausgeht. Sie schweigt. Aber wie
das Chaos ihr Beginnen nicht vernahm, so wird es sich auch des Aufhörens
der Tone nicht bewußt. Noch lange braust der rasende Strudel fort; nur
nach und nach legt sich die tobende Sturmfluth zu eurem wogenden Rauschen
oder rollenden Gemurmel zusammen. Der Anschein von Ruhe dauert aber
uicht zwei Minuten. Statt der sich ausruhenden Musik wird gepfiffen, ge¬
sungen und dazu wohl hundert Mal auf demselben Flecke, ohne Wechsel und
Unterlaß gesprungen. Als der Verfasser diesem Balle als Zuschauer beiwohnte,
wurden unausgesetzt die letzten Worte eines Liedes gesungen, welche lauteten:
Wer uicht drehn sich will, der steh' still. Bemerkeuswerth ist, daß nach Zeug¬
niß des Verfassers keine uuanstündige oder ungezogene Handlung und kein
Streit vorkommt, sowie daß nirgends eine Spur von Polizei zu fin¬
den war.

Einem solchen Volksleben, so derb es sich auch kundgibt, können wir
unsere Sympathie nicht versagen, denn dieser mächtige Drang nach Vereinigung
läßt auf ein für den Staat heilsames Gefühl der Selbständigkeit und Zusam¬
mengehörigkeit schließen.

Im Kapitel der „Städtebilder" macht uns der Verfasser mit der Geschichte,
der Oertlichkeit und den Bewohnern von Mecheln, Brügge und Gent bekannt.
Der glänzende Festzug zieht an uns vorüber, der 1849 zur Einweihung des
Denkmals Margarethens von Oesterreich in Mecheln stattfand, und wir ver¬
nehmen von dem wunderbaren Umzüge der hohen Gelenkpnppe Op. Signorken
daselbst. Brügge wird als eine Stadt mit vielen Reizen stiller Schönheit ge¬
schildert, und vornehmlich werden wir mit Gent, wo der Verfasser einen Winter
über lebte, und deu Beginenhöfen bekamt gemacht. Ein umfangreiches Kapitel
ist der Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet. Hier wird von dem Schnitz-
werk eines alten Kamins im Brügger Gerichtsgebüude, dem Maler Hans


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[0397] drehe sich ein Kreisel oder ein Rad um seine Achse; die Kreise nehmen zu, er¬ weitern sich, vermischen sich; ohne daß ein Schritt weit leerer Raum da wäre, entsteht eine Vorwärtsbewegung, erst an einer Seite, dann an der anderen, dann ringsnm; wer nicht mit will, wird an die Seite gedrängt oder in der Mitte zusammengepreßt; und so bildet sich allmählich ein länglicher, brausender Wirbelstrom, ein fortwogender Kreislauf, wobei zuletzt niemand mehr tanzt, kein Paar sich dreht, wobei Jedes nur vorwärts drängt und gedrängt wird, immer schneller, immer rasender, unter Lachen, Jubeln, Schreien, Pfeifen, Blasen, Trommeln, Klappern, Rasseln, unter den ruckweisen Stößen der Musikanten, ohne daß man bemerkt, ob diese die Renner oder die Rennenden die Musik fortreißen, immer wilder, wüster, wälzender, daß dem Zuschauer das Hirn wirbelt und der Musik der Athem ausgeht. Sie schweigt. Aber wie das Chaos ihr Beginnen nicht vernahm, so wird es sich auch des Aufhörens der Tone nicht bewußt. Noch lange braust der rasende Strudel fort; nur nach und nach legt sich die tobende Sturmfluth zu eurem wogenden Rauschen oder rollenden Gemurmel zusammen. Der Anschein von Ruhe dauert aber uicht zwei Minuten. Statt der sich ausruhenden Musik wird gepfiffen, ge¬ sungen und dazu wohl hundert Mal auf demselben Flecke, ohne Wechsel und Unterlaß gesprungen. Als der Verfasser diesem Balle als Zuschauer beiwohnte, wurden unausgesetzt die letzten Worte eines Liedes gesungen, welche lauteten: Wer uicht drehn sich will, der steh' still. Bemerkeuswerth ist, daß nach Zeug¬ niß des Verfassers keine uuanstündige oder ungezogene Handlung und kein Streit vorkommt, sowie daß nirgends eine Spur von Polizei zu fin¬ den war. Einem solchen Volksleben, so derb es sich auch kundgibt, können wir unsere Sympathie nicht versagen, denn dieser mächtige Drang nach Vereinigung läßt auf ein für den Staat heilsames Gefühl der Selbständigkeit und Zusam¬ mengehörigkeit schließen. Im Kapitel der „Städtebilder" macht uns der Verfasser mit der Geschichte, der Oertlichkeit und den Bewohnern von Mecheln, Brügge und Gent bekannt. Der glänzende Festzug zieht an uns vorüber, der 1849 zur Einweihung des Denkmals Margarethens von Oesterreich in Mecheln stattfand, und wir ver¬ nehmen von dem wunderbaren Umzüge der hohen Gelenkpnppe Op. Signorken daselbst. Brügge wird als eine Stadt mit vielen Reizen stiller Schönheit ge¬ schildert, und vornehmlich werden wir mit Gent, wo der Verfasser einen Winter über lebte, und deu Beginenhöfen bekamt gemacht. Ein umfangreiches Kapitel ist der Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet. Hier wird von dem Schnitz- werk eines alten Kamins im Brügger Gerichtsgebüude, dem Maler Hans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/397>, abgerufen am 03.07.2024.