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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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willen entgegen, welches theilweise freilich ans der Erinnerung an die Be¬
schaffenheit herrühren mochte, die diesem Artikel in den Berliner Restaurants
eigen zu sein Pflegt. Man ließ mich ein wenig lange warten. Dann aber,
nachdem ich die unvermeidliche Wassersuppe mit Parmesankäse glücklich über¬
standen, erschien vor mir ein trefflich zubereiteter halbwüchsiger Hahn, ein
wahres Muster seiner Gattung, mit Ausnahme der Krallen vollständig, selbst
den Kamm noch auf dem Haupte. Ich unterlasse, meine Gefühle zu schildern;
nur so viel will ich sagen, daß ich das Wohlbehagen, welches ein mit tüchtigem
Appetit genossenes Mahl erzeugt, niemals tiefer und dankbarer empfunden habe,
als an jenem Abende. Aehnliches erlebte ich gleich am folgenden Tage in der
"Post" zu Trafoi. Dort hat die sorgsame Wirthin noch dazu die goldene
Devise: "Einfach, aber reinlich" und ihr Haus bietet insofern einen höchst an¬
genehmen Contrast zu der italienischen Wirthschaft am Stelvio, aber in Küche
und Keller ist ihr die letztere, trotz aller lobenswerthen Anstrengungen doch
überlegen.

Wolle der Leser diese enlinarische Abschweifung verzeihen! Ich kenne jene
ascetischen Charaktere, welchen jede Lobrede auf ein gutes Essen und Trinken
als barbarischer Materialismus gilt, welche wohl gar eine moralische Pflicht
daraus machen, diese Dinge zum mindesten als gleichgültig zu betrachten. Mir
mangelt das Verständniß für diese Weisheit. Eine allseitige Civilisation wird
stets auch uns die Art und Weise, wie selbst die gewöhnlichsten Bedürfnisse
befriedigt werden, Gewicht legen. Es ist ein Widersinn, sich im geistigen Leben
auf den höchsten Höhen der Kultur zu bewegen und im Essen und Trinken
kaum das Niveau der niedrigsten Naturvölker zu überschreiten. Ganz besonders
thöricht aber dünkt es mir, anf Erholungsreisen diese Seite zu vernachlässigen.

Indeß, mehr als die Freuden der Tafel gilt mir in der Region des
Stelviopasses doch der Naturgenuß. Eine herrlichere und zugleich bequemere
Alpenaussicht, als die von Piz Umbrnil (etwa 10,000') kann ich mir nicht
denken. Unmittelbar vor uns, als ließen sie sich mit Händen greifen, hat man
die gewaltigen Eis- und Schneefelder der Ortlergruppe. Südwestlich erhebt
sich der schimmernde Koloß der Bernina, östlich die Oetzthaler Ferner, im Norden
und Westen die unabsehbare Gletscherwelt Graubündens. Dies Alles in das
glanzvolle Lichtmeer eines wolkenlosen Oktobermvrgens getaucht -- in der
That, der Eindruck spottet aller Beschreibung! Und in gleichem Grade fesselnd
ist der sechsstündige Abstieg bis ins Etschthal zurück. Hat man das Stilfser
Joch überschritten , so bleibt freilich nur der Blick auf den Ortler. Aber mit
jedem Hundert Schritte weiter hinunter erscheinen dessen Formen überwältigender,
bis auf einem Straßeuvvrsprllng am "Weißen Krott" das grandiose Schauspiel
seinen Gipfel erreicht. Inmitten zweier mächtiger, steil abfallender Gletscher


willen entgegen, welches theilweise freilich ans der Erinnerung an die Be¬
schaffenheit herrühren mochte, die diesem Artikel in den Berliner Restaurants
eigen zu sein Pflegt. Man ließ mich ein wenig lange warten. Dann aber,
nachdem ich die unvermeidliche Wassersuppe mit Parmesankäse glücklich über¬
standen, erschien vor mir ein trefflich zubereiteter halbwüchsiger Hahn, ein
wahres Muster seiner Gattung, mit Ausnahme der Krallen vollständig, selbst
den Kamm noch auf dem Haupte. Ich unterlasse, meine Gefühle zu schildern;
nur so viel will ich sagen, daß ich das Wohlbehagen, welches ein mit tüchtigem
Appetit genossenes Mahl erzeugt, niemals tiefer und dankbarer empfunden habe,
als an jenem Abende. Aehnliches erlebte ich gleich am folgenden Tage in der
„Post" zu Trafoi. Dort hat die sorgsame Wirthin noch dazu die goldene
Devise: „Einfach, aber reinlich" und ihr Haus bietet insofern einen höchst an¬
genehmen Contrast zu der italienischen Wirthschaft am Stelvio, aber in Küche
und Keller ist ihr die letztere, trotz aller lobenswerthen Anstrengungen doch
überlegen.

Wolle der Leser diese enlinarische Abschweifung verzeihen! Ich kenne jene
ascetischen Charaktere, welchen jede Lobrede auf ein gutes Essen und Trinken
als barbarischer Materialismus gilt, welche wohl gar eine moralische Pflicht
daraus machen, diese Dinge zum mindesten als gleichgültig zu betrachten. Mir
mangelt das Verständniß für diese Weisheit. Eine allseitige Civilisation wird
stets auch uns die Art und Weise, wie selbst die gewöhnlichsten Bedürfnisse
befriedigt werden, Gewicht legen. Es ist ein Widersinn, sich im geistigen Leben
auf den höchsten Höhen der Kultur zu bewegen und im Essen und Trinken
kaum das Niveau der niedrigsten Naturvölker zu überschreiten. Ganz besonders
thöricht aber dünkt es mir, anf Erholungsreisen diese Seite zu vernachlässigen.

Indeß, mehr als die Freuden der Tafel gilt mir in der Region des
Stelviopasses doch der Naturgenuß. Eine herrlichere und zugleich bequemere
Alpenaussicht, als die von Piz Umbrnil (etwa 10,000') kann ich mir nicht
denken. Unmittelbar vor uns, als ließen sie sich mit Händen greifen, hat man
die gewaltigen Eis- und Schneefelder der Ortlergruppe. Südwestlich erhebt
sich der schimmernde Koloß der Bernina, östlich die Oetzthaler Ferner, im Norden
und Westen die unabsehbare Gletscherwelt Graubündens. Dies Alles in das
glanzvolle Lichtmeer eines wolkenlosen Oktobermvrgens getaucht — in der
That, der Eindruck spottet aller Beschreibung! Und in gleichem Grade fesselnd
ist der sechsstündige Abstieg bis ins Etschthal zurück. Hat man das Stilfser
Joch überschritten , so bleibt freilich nur der Blick auf den Ortler. Aber mit
jedem Hundert Schritte weiter hinunter erscheinen dessen Formen überwältigender,
bis auf einem Straßeuvvrsprllng am „Weißen Krott" das grandiose Schauspiel
seinen Gipfel erreicht. Inmitten zweier mächtiger, steil abfallender Gletscher


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[0039] willen entgegen, welches theilweise freilich ans der Erinnerung an die Be¬ schaffenheit herrühren mochte, die diesem Artikel in den Berliner Restaurants eigen zu sein Pflegt. Man ließ mich ein wenig lange warten. Dann aber, nachdem ich die unvermeidliche Wassersuppe mit Parmesankäse glücklich über¬ standen, erschien vor mir ein trefflich zubereiteter halbwüchsiger Hahn, ein wahres Muster seiner Gattung, mit Ausnahme der Krallen vollständig, selbst den Kamm noch auf dem Haupte. Ich unterlasse, meine Gefühle zu schildern; nur so viel will ich sagen, daß ich das Wohlbehagen, welches ein mit tüchtigem Appetit genossenes Mahl erzeugt, niemals tiefer und dankbarer empfunden habe, als an jenem Abende. Aehnliches erlebte ich gleich am folgenden Tage in der „Post" zu Trafoi. Dort hat die sorgsame Wirthin noch dazu die goldene Devise: „Einfach, aber reinlich" und ihr Haus bietet insofern einen höchst an¬ genehmen Contrast zu der italienischen Wirthschaft am Stelvio, aber in Küche und Keller ist ihr die letztere, trotz aller lobenswerthen Anstrengungen doch überlegen. Wolle der Leser diese enlinarische Abschweifung verzeihen! Ich kenne jene ascetischen Charaktere, welchen jede Lobrede auf ein gutes Essen und Trinken als barbarischer Materialismus gilt, welche wohl gar eine moralische Pflicht daraus machen, diese Dinge zum mindesten als gleichgültig zu betrachten. Mir mangelt das Verständniß für diese Weisheit. Eine allseitige Civilisation wird stets auch uns die Art und Weise, wie selbst die gewöhnlichsten Bedürfnisse befriedigt werden, Gewicht legen. Es ist ein Widersinn, sich im geistigen Leben auf den höchsten Höhen der Kultur zu bewegen und im Essen und Trinken kaum das Niveau der niedrigsten Naturvölker zu überschreiten. Ganz besonders thöricht aber dünkt es mir, anf Erholungsreisen diese Seite zu vernachlässigen. Indeß, mehr als die Freuden der Tafel gilt mir in der Region des Stelviopasses doch der Naturgenuß. Eine herrlichere und zugleich bequemere Alpenaussicht, als die von Piz Umbrnil (etwa 10,000') kann ich mir nicht denken. Unmittelbar vor uns, als ließen sie sich mit Händen greifen, hat man die gewaltigen Eis- und Schneefelder der Ortlergruppe. Südwestlich erhebt sich der schimmernde Koloß der Bernina, östlich die Oetzthaler Ferner, im Norden und Westen die unabsehbare Gletscherwelt Graubündens. Dies Alles in das glanzvolle Lichtmeer eines wolkenlosen Oktobermvrgens getaucht — in der That, der Eindruck spottet aller Beschreibung! Und in gleichem Grade fesselnd ist der sechsstündige Abstieg bis ins Etschthal zurück. Hat man das Stilfser Joch überschritten , so bleibt freilich nur der Blick auf den Ortler. Aber mit jedem Hundert Schritte weiter hinunter erscheinen dessen Formen überwältigender, bis auf einem Straßeuvvrsprllng am „Weißen Krott" das grandiose Schauspiel seinen Gipfel erreicht. Inmitten zweier mächtiger, steil abfallender Gletscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/39>, abgerufen am 23.07.2024.