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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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der Leute zu kommen oder gar die Büttel der Frohnveste sich auf die Fersen
zu ziehen. Denn so ungestraft die Großen auch ihren Neigungen Zügelfreiheit
gönnen durften, für die Kleinen hatte damals Frau Justitia das Schwert immer
bei der Hand. Und was gerade im Sächsischen in Bezug auf Conflicte mit
dem Konsistorium in dieser Zeit zu gewärtigen war, dafür hat es nicht an
Belegen gefehlt. War doch herkömmlicher Weise ein junges Paar, dem nicht
gar lange nach der Hochzeit ein Kind geboren wurde, der grausamen Strafe
verfallen, an drei Sonntagen im Halseisen vor der Kirche ausgestellt zu werdeu,
worauf dann noch die Kirchenbuße des Kniens vor dem Altar folgte; und als
im Jahre 1719 im füchsischer Dorfe Barthelsdorf ein nachsichtiger Pfarrer
diese Strafen abschaffen wollte, hatte er große Mühe, seine Neuerung durch¬
zusetzen.

Und wie verfuhr denn jene Zeit überhaupt mit Straffälligen, oft auch nur
Verdächtigen oder gar offenkundig Unschuldigen, aber aus Privatrache den
Gerichten Ueberantworteten, unter den Letzteren vor Allem den der Hexerei An¬
geklagten? Denn zur Zeit der Neuberin standen die Hexenprozesse, wenn auch
uicht mehr in voller Blüthe, so doch immer noch in Ansehen, wie denn noch
ans Grund der Hexerei im Jahre 1749 zu Würzburg eine Nonne hingerichtet
wurde, und vereinzelte Strafvollstreckungen dieser Art selbst bis ins Jahr 1793
vorkommen. Daneben war, wenn man allein die in Sachsen noch üblichen
Strafarten ins Auge faßt, im Jahre 1726 (nach Jsländers dresdner Ker-
Chronik) noch im Schwunge: für Deserteure Ohrabschneiden, für Diebe Ständen,
Brandmarken, unter Umständen auch Hängen, für Mörder Rädern, für Mein¬
eidige Fingerabschneiden und Hinrichten u. f. w., und in dein benachbarten
Prag wurden sogar mehreren Mördern, ehe sie gezwickt und gerädert wurden,
ums Jahr 1732 Riemen aus dem Rücken geschnitten und abgestreift.

Und was die elterlichen Strafweisen betrifft -- denen gemäß der alte
Weißenborn nicht einmal als Unicum gelten darf -- so charakterisirt es jene
Zeit, daß Gottsched in seiner Wochenschrift "die vernünftigen Tadlerinnen" noch
gegen die Unsitte eifern mußte, welche damals ganz gebräuchlich gewesen zu
sein scheint, daß nämlich für Säumniß im Strnmvfstricken einem Kinde
(damals strickten auch die Knaben) die Hände mit Strickwolle umwickelt und
diese dann angezündet wurde, eine Grausamkeit, welche übrigens zu Anfang
dieses Jcchrhuuderts auch in Hamburg noch vorgekommen ist.

Was nun jene dritte Flucht Carolinens betrifft, so fehlt darüber alles
Nähere. Obschon der heftige Charakter des alten Advokaten zu dem Schluß
berechtigt, daß er Alles aufgeboten haben wird, um auch diesmal seiner Tochter
wieder habhaft zu werden, scheinen die desfallsigen gerichtlichen Akten doch nicht
aufzufinden zu sein. Herr Dr. Herzog hat, wie er mir mittheilt, die Zwickauer


der Leute zu kommen oder gar die Büttel der Frohnveste sich auf die Fersen
zu ziehen. Denn so ungestraft die Großen auch ihren Neigungen Zügelfreiheit
gönnen durften, für die Kleinen hatte damals Frau Justitia das Schwert immer
bei der Hand. Und was gerade im Sächsischen in Bezug auf Conflicte mit
dem Konsistorium in dieser Zeit zu gewärtigen war, dafür hat es nicht an
Belegen gefehlt. War doch herkömmlicher Weise ein junges Paar, dem nicht
gar lange nach der Hochzeit ein Kind geboren wurde, der grausamen Strafe
verfallen, an drei Sonntagen im Halseisen vor der Kirche ausgestellt zu werdeu,
worauf dann noch die Kirchenbuße des Kniens vor dem Altar folgte; und als
im Jahre 1719 im füchsischer Dorfe Barthelsdorf ein nachsichtiger Pfarrer
diese Strafen abschaffen wollte, hatte er große Mühe, seine Neuerung durch¬
zusetzen.

Und wie verfuhr denn jene Zeit überhaupt mit Straffälligen, oft auch nur
Verdächtigen oder gar offenkundig Unschuldigen, aber aus Privatrache den
Gerichten Ueberantworteten, unter den Letzteren vor Allem den der Hexerei An¬
geklagten? Denn zur Zeit der Neuberin standen die Hexenprozesse, wenn auch
uicht mehr in voller Blüthe, so doch immer noch in Ansehen, wie denn noch
ans Grund der Hexerei im Jahre 1749 zu Würzburg eine Nonne hingerichtet
wurde, und vereinzelte Strafvollstreckungen dieser Art selbst bis ins Jahr 1793
vorkommen. Daneben war, wenn man allein die in Sachsen noch üblichen
Strafarten ins Auge faßt, im Jahre 1726 (nach Jsländers dresdner Ker-
Chronik) noch im Schwunge: für Deserteure Ohrabschneiden, für Diebe Ständen,
Brandmarken, unter Umständen auch Hängen, für Mörder Rädern, für Mein¬
eidige Fingerabschneiden und Hinrichten u. f. w., und in dein benachbarten
Prag wurden sogar mehreren Mördern, ehe sie gezwickt und gerädert wurden,
ums Jahr 1732 Riemen aus dem Rücken geschnitten und abgestreift.

Und was die elterlichen Strafweisen betrifft — denen gemäß der alte
Weißenborn nicht einmal als Unicum gelten darf — so charakterisirt es jene
Zeit, daß Gottsched in seiner Wochenschrift „die vernünftigen Tadlerinnen" noch
gegen die Unsitte eifern mußte, welche damals ganz gebräuchlich gewesen zu
sein scheint, daß nämlich für Säumniß im Strnmvfstricken einem Kinde
(damals strickten auch die Knaben) die Hände mit Strickwolle umwickelt und
diese dann angezündet wurde, eine Grausamkeit, welche übrigens zu Anfang
dieses Jcchrhuuderts auch in Hamburg noch vorgekommen ist.

Was nun jene dritte Flucht Carolinens betrifft, so fehlt darüber alles
Nähere. Obschon der heftige Charakter des alten Advokaten zu dem Schluß
berechtigt, daß er Alles aufgeboten haben wird, um auch diesmal seiner Tochter
wieder habhaft zu werden, scheinen die desfallsigen gerichtlichen Akten doch nicht
aufzufinden zu sein. Herr Dr. Herzog hat, wie er mir mittheilt, die Zwickauer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/360>, abgerufen am 03.07.2024.