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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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unsrer Meinung die Deutung hören, die in dein ewigen Juden den Typus
des gesammten jüdischen Volkes in seiner Zerstreutheit über die ganze Erde
und in der Unwandelbarkeit seines Wesens und Charakters erblickt. Aber
auch dies erklärt uns eine Anzahl von Zügen nicht, die mehr oder minder
deutlich in der Legende wiederkehren, welche wir mitgetheilt haben. Wir wer¬
den durch diese Züge vielmehr darauf hingewiesen, daß die mythische Persönlich¬
keit des ewigen Juden aus der Sage vom ewig jungeu Chidr und andrerseits
aus den altgermanischen Mythen von den Wanderungen Wuotans oder Odins
zusammengeflossen ist. Der Orient und der Occident begegneten sich in den
Kreuzzügen. Die Verschmelzung des übermenschlichen alten Wanderers aus
dem Norden mit dem arabischen Unsterblichen hatte sich bereits in weiten
Kreisen vollzogen, als der Mönch Matthäus Parisiensis im dreizehnten Jahr¬
hundert die Legende, welche dem bisher weltlichen Mythengebilde, vielleicht auf
Grund eines Mißverständnisses der Stelle Johannes 21, 22 und 23*),
ein kirchliches Gewand umgehängt hatte, durch Niederschreiben fixirte.

Chidr war nach arabischer Sage der Wesir des ersten Zuk Karnejn, eines
Welteroberers zu Ibrahims (Abrahams) Zeit. Er hat von der Quelle des
Lebens und der ewigen Jugend getrunken und wird infolge dessen bis zum
Tage des jüngsten Gerichtes leben. Man stellt sich ihn als stets auf der
Wanderung begriffen vor, auf welcher er zu bestimmten Zeiten dieselben Orte
wieder besucht. Zugleich ist er aber der große Nothhelfer der Muslime, wes¬
halb er von denselben angerufen wird, wenn sie in Bedrängniß sind. In der
Regel erscheint er dann in grüner Kleidung, was vielleicht darauf hindeutet,
daß sich in ihm das als Gottheit gedachte ewig junge Naturleben verbirgt.
Er scheint mit dem geheimnißvollen Wesen verwandt zu sein, welches man in
den Kreisen der arabischen Mystiker El Külb (den Pol, seil, der Welt) nennt,
und welches als das Oberhaupt aller Welis (Heiligen) gilt. Der Külb hat
ebenfalls ein unvergängliches Leben, er wird oft gesehen, aber erst nachher
erfährt man, daß er es gewesen, dem man begegnet ist. Er geht stets bescheiden
und dürftig gekleidet einher, und sein Bestreben ist, gottlos Handelnde durch
sanfte Ermahnung auf den rechten Weg zurückzuführen. Lieblingsstationen des
Külb sind das Bab Zuwejleh, ein Thor Kairos, und das Dach der Kaaba in
Mekka. Dort heilt er Zahnschmerzen, wenn man einen Nagel in das Thor
schlägt, hier hört man ihn in der Mitternachtsstunde zweimal den Beterruf:
"O Du Barmherzigster der Barmherzigen!" wiederholen. Er wandert aber



*) Jesus sagt hier zu Petrus, welcher gefragt hat, was der ihnen folgende Johannes
solle: "So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es Dich an." Da ging ein?
Rede aus unter den Brüdern: "Dieser Jünger stirbt nicht."

unsrer Meinung die Deutung hören, die in dein ewigen Juden den Typus
des gesammten jüdischen Volkes in seiner Zerstreutheit über die ganze Erde
und in der Unwandelbarkeit seines Wesens und Charakters erblickt. Aber
auch dies erklärt uns eine Anzahl von Zügen nicht, die mehr oder minder
deutlich in der Legende wiederkehren, welche wir mitgetheilt haben. Wir wer¬
den durch diese Züge vielmehr darauf hingewiesen, daß die mythische Persönlich¬
keit des ewigen Juden aus der Sage vom ewig jungeu Chidr und andrerseits
aus den altgermanischen Mythen von den Wanderungen Wuotans oder Odins
zusammengeflossen ist. Der Orient und der Occident begegneten sich in den
Kreuzzügen. Die Verschmelzung des übermenschlichen alten Wanderers aus
dem Norden mit dem arabischen Unsterblichen hatte sich bereits in weiten
Kreisen vollzogen, als der Mönch Matthäus Parisiensis im dreizehnten Jahr¬
hundert die Legende, welche dem bisher weltlichen Mythengebilde, vielleicht auf
Grund eines Mißverständnisses der Stelle Johannes 21, 22 und 23*),
ein kirchliches Gewand umgehängt hatte, durch Niederschreiben fixirte.

Chidr war nach arabischer Sage der Wesir des ersten Zuk Karnejn, eines
Welteroberers zu Ibrahims (Abrahams) Zeit. Er hat von der Quelle des
Lebens und der ewigen Jugend getrunken und wird infolge dessen bis zum
Tage des jüngsten Gerichtes leben. Man stellt sich ihn als stets auf der
Wanderung begriffen vor, auf welcher er zu bestimmten Zeiten dieselben Orte
wieder besucht. Zugleich ist er aber der große Nothhelfer der Muslime, wes¬
halb er von denselben angerufen wird, wenn sie in Bedrängniß sind. In der
Regel erscheint er dann in grüner Kleidung, was vielleicht darauf hindeutet,
daß sich in ihm das als Gottheit gedachte ewig junge Naturleben verbirgt.
Er scheint mit dem geheimnißvollen Wesen verwandt zu sein, welches man in
den Kreisen der arabischen Mystiker El Külb (den Pol, seil, der Welt) nennt,
und welches als das Oberhaupt aller Welis (Heiligen) gilt. Der Külb hat
ebenfalls ein unvergängliches Leben, er wird oft gesehen, aber erst nachher
erfährt man, daß er es gewesen, dem man begegnet ist. Er geht stets bescheiden
und dürftig gekleidet einher, und sein Bestreben ist, gottlos Handelnde durch
sanfte Ermahnung auf den rechten Weg zurückzuführen. Lieblingsstationen des
Külb sind das Bab Zuwejleh, ein Thor Kairos, und das Dach der Kaaba in
Mekka. Dort heilt er Zahnschmerzen, wenn man einen Nagel in das Thor
schlägt, hier hört man ihn in der Mitternachtsstunde zweimal den Beterruf:
„O Du Barmherzigster der Barmherzigen!" wiederholen. Er wandert aber



*) Jesus sagt hier zu Petrus, welcher gefragt hat, was der ihnen folgende Johannes
solle: „So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es Dich an." Da ging ein?
Rede aus unter den Brüdern: „Dieser Jünger stirbt nicht."
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[0349] unsrer Meinung die Deutung hören, die in dein ewigen Juden den Typus des gesammten jüdischen Volkes in seiner Zerstreutheit über die ganze Erde und in der Unwandelbarkeit seines Wesens und Charakters erblickt. Aber auch dies erklärt uns eine Anzahl von Zügen nicht, die mehr oder minder deutlich in der Legende wiederkehren, welche wir mitgetheilt haben. Wir wer¬ den durch diese Züge vielmehr darauf hingewiesen, daß die mythische Persönlich¬ keit des ewigen Juden aus der Sage vom ewig jungeu Chidr und andrerseits aus den altgermanischen Mythen von den Wanderungen Wuotans oder Odins zusammengeflossen ist. Der Orient und der Occident begegneten sich in den Kreuzzügen. Die Verschmelzung des übermenschlichen alten Wanderers aus dem Norden mit dem arabischen Unsterblichen hatte sich bereits in weiten Kreisen vollzogen, als der Mönch Matthäus Parisiensis im dreizehnten Jahr¬ hundert die Legende, welche dem bisher weltlichen Mythengebilde, vielleicht auf Grund eines Mißverständnisses der Stelle Johannes 21, 22 und 23*), ein kirchliches Gewand umgehängt hatte, durch Niederschreiben fixirte. Chidr war nach arabischer Sage der Wesir des ersten Zuk Karnejn, eines Welteroberers zu Ibrahims (Abrahams) Zeit. Er hat von der Quelle des Lebens und der ewigen Jugend getrunken und wird infolge dessen bis zum Tage des jüngsten Gerichtes leben. Man stellt sich ihn als stets auf der Wanderung begriffen vor, auf welcher er zu bestimmten Zeiten dieselben Orte wieder besucht. Zugleich ist er aber der große Nothhelfer der Muslime, wes¬ halb er von denselben angerufen wird, wenn sie in Bedrängniß sind. In der Regel erscheint er dann in grüner Kleidung, was vielleicht darauf hindeutet, daß sich in ihm das als Gottheit gedachte ewig junge Naturleben verbirgt. Er scheint mit dem geheimnißvollen Wesen verwandt zu sein, welches man in den Kreisen der arabischen Mystiker El Külb (den Pol, seil, der Welt) nennt, und welches als das Oberhaupt aller Welis (Heiligen) gilt. Der Külb hat ebenfalls ein unvergängliches Leben, er wird oft gesehen, aber erst nachher erfährt man, daß er es gewesen, dem man begegnet ist. Er geht stets bescheiden und dürftig gekleidet einher, und sein Bestreben ist, gottlos Handelnde durch sanfte Ermahnung auf den rechten Weg zurückzuführen. Lieblingsstationen des Külb sind das Bab Zuwejleh, ein Thor Kairos, und das Dach der Kaaba in Mekka. Dort heilt er Zahnschmerzen, wenn man einen Nagel in das Thor schlägt, hier hört man ihn in der Mitternachtsstunde zweimal den Beterruf: „O Du Barmherzigster der Barmherzigen!" wiederholen. Er wandert aber *) Jesus sagt hier zu Petrus, welcher gefragt hat, was der ihnen folgende Johannes solle: „So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es Dich an." Da ging ein? Rede aus unter den Brüdern: „Dieser Jünger stirbt nicht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/349>, abgerufen am 23.07.2024.