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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Gegend verödet und zur Wildnis; geworden Es wachsen im Besteig, nicht
einmal mehr Aepfel, Der Saanetsch gibt dein Vieh im Sommer nnr noch
drei Wochen hindurch hinlängliche Nahrung. Nach der Sage soll aber einmal
der ewige Jude, als er hier durchgekommen, gesagt haben, wenn er das nächste
Mal wieder erscheine, so werde dieses Thal so wild sein, wie die Alpenhöhe
des Saanetschberges.

Das Kirchlein von Blumenstein ist ein gutes Stück von diesem Dorfe
entfernt, und in Bezug auf diesen Umstand wußte ein anderer Berner Folgen¬
des zu berichten:

Vor alten Zeiten waren unsere Berge bewohnt, und die tiefer liegenden
Gegenden der Gürbe (Kurve, Krümmung) uach bis Seelhofen waren ein See.
Besonders bevölkert war der Berg Langeneck. An der Sonnenseite desselben
hatte man Reben gepflanzt, und auf der Schattenseite im Buchschwcmd war
eine Stadt, und von dieser ist unter am See die kleine Kirche von Blumen¬
stein erbaut worden. Jeden zweiten Sonntag mußte ein Prediger aus der
Stadt hinunter ans Wasser, um den dort wohnenden Leuten das Evangelium
zu verkünden. Als der ewige Jude diese Gegend zum ersten Male bereiste,
wurde sie gesegnet. Das zweite Mal aber fand er, daß die Leute dort in
Sittenlosigkeit versunken waren, und da verwünschte er sie, sodaß sie zu eiuer
unfruchtbaren Einöde wurde. Kommt er aber das dritte Mal, so wird diese
Gegend zu einen: Gletscher werden.

Vom Pilatusberge am Vierwaldstädter See her kommt, wie Rochholz
mittheilt, alljährlich um Neujahr ein uicht unfreundlich aussehender Maun dnrch
das Aargatt an den Rhein gereist. In den Freienämtern wird er nach dein
Berge, auf dein er seit vielen Jahrhunderten wohnen soll, Pilatus genannt.
An einigen Orten heißt er auch der Pilger vou Rom, weil er wie ein Pilger
mit großem breitrandigen Hute, langem Stäbe, Klette mit Mantelkragen und
dick benagelten Schuhen versehen erscheint. Im Freienamte übernachtet, er ge¬
wohnlich in dem einen oder dem andern leerstehenden Häuschen der Weinberge.
In seiner'Pilgcrtasche führt er sogenannten "Bergzieger" oder, wie man das
weiche Gestein auch nennt, "Mondmilch" mit sich, die er aus dem Ziegerloch,
einer Höhle am Pilatus, geholt hat, und diesen Steinkäse nebst "Walsteinen",
einer Art Guhr, womit mau Gliederquetschungen heilt, läßt er beim Weggehen
als Schlafgeld für die Besitzer jener Hänschen zurück. In Lengnan und En¬
dingen, wo Judengemeinden sind, desgleichen im katholischen Frickthale ist er
unter dem Namen des einigen Juden bekannt. Wenn er diesen Strich bereist,
und ebenso wenn er die angrenzende Basellandschaft durchwandert, übernachtet
er immer in demselben Wirthshause. Doch geht er niemants zu Bett, sondern
läuft die ganze Nacht unaufhörlich in der Stube "aber, bis er am Morgen


Gegend verödet und zur Wildnis; geworden Es wachsen im Besteig, nicht
einmal mehr Aepfel, Der Saanetsch gibt dein Vieh im Sommer nnr noch
drei Wochen hindurch hinlängliche Nahrung. Nach der Sage soll aber einmal
der ewige Jude, als er hier durchgekommen, gesagt haben, wenn er das nächste
Mal wieder erscheine, so werde dieses Thal so wild sein, wie die Alpenhöhe
des Saanetschberges.

Das Kirchlein von Blumenstein ist ein gutes Stück von diesem Dorfe
entfernt, und in Bezug auf diesen Umstand wußte ein anderer Berner Folgen¬
des zu berichten:

Vor alten Zeiten waren unsere Berge bewohnt, und die tiefer liegenden
Gegenden der Gürbe (Kurve, Krümmung) uach bis Seelhofen waren ein See.
Besonders bevölkert war der Berg Langeneck. An der Sonnenseite desselben
hatte man Reben gepflanzt, und auf der Schattenseite im Buchschwcmd war
eine Stadt, und von dieser ist unter am See die kleine Kirche von Blumen¬
stein erbaut worden. Jeden zweiten Sonntag mußte ein Prediger aus der
Stadt hinunter ans Wasser, um den dort wohnenden Leuten das Evangelium
zu verkünden. Als der ewige Jude diese Gegend zum ersten Male bereiste,
wurde sie gesegnet. Das zweite Mal aber fand er, daß die Leute dort in
Sittenlosigkeit versunken waren, und da verwünschte er sie, sodaß sie zu eiuer
unfruchtbaren Einöde wurde. Kommt er aber das dritte Mal, so wird diese
Gegend zu einen: Gletscher werden.

Vom Pilatusberge am Vierwaldstädter See her kommt, wie Rochholz
mittheilt, alljährlich um Neujahr ein uicht unfreundlich aussehender Maun dnrch
das Aargatt an den Rhein gereist. In den Freienämtern wird er nach dein
Berge, auf dein er seit vielen Jahrhunderten wohnen soll, Pilatus genannt.
An einigen Orten heißt er auch der Pilger vou Rom, weil er wie ein Pilger
mit großem breitrandigen Hute, langem Stäbe, Klette mit Mantelkragen und
dick benagelten Schuhen versehen erscheint. Im Freienamte übernachtet, er ge¬
wohnlich in dem einen oder dem andern leerstehenden Häuschen der Weinberge.
In seiner'Pilgcrtasche führt er sogenannten „Bergzieger" oder, wie man das
weiche Gestein auch nennt, „Mondmilch" mit sich, die er aus dem Ziegerloch,
einer Höhle am Pilatus, geholt hat, und diesen Steinkäse nebst „Walsteinen",
einer Art Guhr, womit mau Gliederquetschungen heilt, läßt er beim Weggehen
als Schlafgeld für die Besitzer jener Hänschen zurück. In Lengnan und En¬
dingen, wo Judengemeinden sind, desgleichen im katholischen Frickthale ist er
unter dem Namen des einigen Juden bekannt. Wenn er diesen Strich bereist,
und ebenso wenn er die angrenzende Basellandschaft durchwandert, übernachtet
er immer in demselben Wirthshause. Doch geht er niemants zu Bett, sondern
läuft die ganze Nacht unaufhörlich in der Stube »aber, bis er am Morgen


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[0346] Gegend verödet und zur Wildnis; geworden Es wachsen im Besteig, nicht einmal mehr Aepfel, Der Saanetsch gibt dein Vieh im Sommer nnr noch drei Wochen hindurch hinlängliche Nahrung. Nach der Sage soll aber einmal der ewige Jude, als er hier durchgekommen, gesagt haben, wenn er das nächste Mal wieder erscheine, so werde dieses Thal so wild sein, wie die Alpenhöhe des Saanetschberges. Das Kirchlein von Blumenstein ist ein gutes Stück von diesem Dorfe entfernt, und in Bezug auf diesen Umstand wußte ein anderer Berner Folgen¬ des zu berichten: Vor alten Zeiten waren unsere Berge bewohnt, und die tiefer liegenden Gegenden der Gürbe (Kurve, Krümmung) uach bis Seelhofen waren ein See. Besonders bevölkert war der Berg Langeneck. An der Sonnenseite desselben hatte man Reben gepflanzt, und auf der Schattenseite im Buchschwcmd war eine Stadt, und von dieser ist unter am See die kleine Kirche von Blumen¬ stein erbaut worden. Jeden zweiten Sonntag mußte ein Prediger aus der Stadt hinunter ans Wasser, um den dort wohnenden Leuten das Evangelium zu verkünden. Als der ewige Jude diese Gegend zum ersten Male bereiste, wurde sie gesegnet. Das zweite Mal aber fand er, daß die Leute dort in Sittenlosigkeit versunken waren, und da verwünschte er sie, sodaß sie zu eiuer unfruchtbaren Einöde wurde. Kommt er aber das dritte Mal, so wird diese Gegend zu einen: Gletscher werden. Vom Pilatusberge am Vierwaldstädter See her kommt, wie Rochholz mittheilt, alljährlich um Neujahr ein uicht unfreundlich aussehender Maun dnrch das Aargatt an den Rhein gereist. In den Freienämtern wird er nach dein Berge, auf dein er seit vielen Jahrhunderten wohnen soll, Pilatus genannt. An einigen Orten heißt er auch der Pilger vou Rom, weil er wie ein Pilger mit großem breitrandigen Hute, langem Stäbe, Klette mit Mantelkragen und dick benagelten Schuhen versehen erscheint. Im Freienamte übernachtet, er ge¬ wohnlich in dem einen oder dem andern leerstehenden Häuschen der Weinberge. In seiner'Pilgcrtasche führt er sogenannten „Bergzieger" oder, wie man das weiche Gestein auch nennt, „Mondmilch" mit sich, die er aus dem Ziegerloch, einer Höhle am Pilatus, geholt hat, und diesen Steinkäse nebst „Walsteinen", einer Art Guhr, womit mau Gliederquetschungen heilt, läßt er beim Weggehen als Schlafgeld für die Besitzer jener Hänschen zurück. In Lengnan und En¬ dingen, wo Judengemeinden sind, desgleichen im katholischen Frickthale ist er unter dem Namen des einigen Juden bekannt. Wenn er diesen Strich bereist, und ebenso wenn er die angrenzende Basellandschaft durchwandert, übernachtet er immer in demselben Wirthshause. Doch geht er niemants zu Bett, sondern läuft die ganze Nacht unaufhörlich in der Stube »aber, bis er am Morgen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/346>, abgerufen am 23.07.2024.