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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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wo er in Lustenau N'ar, blieb er bei Gevatter Jokubs über Nacht. Da ist
ihm denn mich - und gewiß nicht zum ersten Mal -- ein Kruzifix zu Ge¬
sicht get'ommeu, welches die Leute, wie gebräuchlich, im Hearawinkel (Herr-
gottesN'iukel) aufgehängt hatten. Wie das der Jude gesehen hat, ist er in
Entsetzen und Wuth gerathen. Ja wahrlich, die ganze große Sünde, die er
begangen hat, muß ihm centnerschwer aufs Gewissen gefallen sein, sonst hätte
er nicht in eine solche Wuth gerathen können. Endlich hat es den Juden
wieder fortgetrieben auf seine ewige Wanderung, und die Leute sind gewiß
froh gewesen, als er ihre Thüre hinter sich hatte, der bodenböse alte Mann."
Ferner erzählt Vernaleken:

An der südlichen Grenzscheide deutschen Landes ragt das Matterhorn empor,
der westliche Nachbar des Monte Rosa. Da, wo jetzt die Visp einem Gletscher
entströmt, soll nach Aussage der Umwohner vor Zeiten eine ansehnliche Stadt
gestanden haben. Durch diese kam einmal "der laufende Jude", wie berichtet
wird, und sprach: "Wenn ich zum zweiten Male hier durchwandere, so werden
da, wo jetzt Häuser und Gassen sind, Bäume wachsen und Steine liegen. Und
wenn mich zum dritten Male mein Weg hierherführt, wird nichts da sein
als Schnee und Eis." Er muß nun wirklich schon dreimal das Matterhorn
überschritten haben, denn an der Stelle, von der er prophezeit, ist jetzt eine
Schnee- und Eiswüste. Dann scheint er aber anch die entgegengesetzte Höhe
des Walliserthales mehrmals betreten zu haben; denn es geht dort die Sage,
der ewige Jude sei dreimal über die Grimsel gewandert, und er habe sie zu¬
erst als Weinberg, dann als Tannenwald und zuletzt als Schneeberg ange¬
troffen. Ein solcher ist aber die Grimsel gewiß, und durch Holzmangel, Felsen-
slürze und Vorrücken der Gletscher wird sie es von Jahr zu Jahr mehr.

Ein Führer aus dem Bernerlande erzählte dem wiederholt genannten
Sagensammler von einer andern Gegend der Schweiz Aehnliches:

Vor langen Jahren soll das G'steigthal ein See gewesen sein, welcher
das Klima so mild gemacht hätte, das an seinen Ufern Reben gediehen wären.
Ans der "Abesite" (Westseite) stehen hoch oben an der Thalwand noch alte
Mauern, die ein Rest des Wirthshauses sein sollen, welches damals sich hier
befunden hätte. "Uf der Morgensite, z' hinterst im G'steig", d. h. südöstlich
im Winkel des Thales, wo der Saanetschpaß hinaufführt, ragt ein hoher
Felsenstock empor, der unmittelbar mit dem Gebirge zusammenhängt und mit
Wald und Gras bewachsen ist. Dorthin sollen die Leute an den Sonntagen
zu Schiffe gefahren sein, um ihren Gottesdienst zu halten. Noch jetzt trägt
dieser Felsenstock den Namen "die Burg". Auch zeigt man dort an der Fiuh
(Bergwand) noch einen eisernen Ring, an dem man ehedem die Schiffe befestigt
haben soll. Nachdem sich der See durch einen Ausbruch verlaufen, ist die
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Grenzboten I, 1877. 43

wo er in Lustenau N'ar, blieb er bei Gevatter Jokubs über Nacht. Da ist
ihm denn mich - und gewiß nicht zum ersten Mal — ein Kruzifix zu Ge¬
sicht get'ommeu, welches die Leute, wie gebräuchlich, im Hearawinkel (Herr-
gottesN'iukel) aufgehängt hatten. Wie das der Jude gesehen hat, ist er in
Entsetzen und Wuth gerathen. Ja wahrlich, die ganze große Sünde, die er
begangen hat, muß ihm centnerschwer aufs Gewissen gefallen sein, sonst hätte
er nicht in eine solche Wuth gerathen können. Endlich hat es den Juden
wieder fortgetrieben auf seine ewige Wanderung, und die Leute sind gewiß
froh gewesen, als er ihre Thüre hinter sich hatte, der bodenböse alte Mann."
Ferner erzählt Vernaleken:

An der südlichen Grenzscheide deutschen Landes ragt das Matterhorn empor,
der westliche Nachbar des Monte Rosa. Da, wo jetzt die Visp einem Gletscher
entströmt, soll nach Aussage der Umwohner vor Zeiten eine ansehnliche Stadt
gestanden haben. Durch diese kam einmal „der laufende Jude", wie berichtet
wird, und sprach: „Wenn ich zum zweiten Male hier durchwandere, so werden
da, wo jetzt Häuser und Gassen sind, Bäume wachsen und Steine liegen. Und
wenn mich zum dritten Male mein Weg hierherführt, wird nichts da sein
als Schnee und Eis." Er muß nun wirklich schon dreimal das Matterhorn
überschritten haben, denn an der Stelle, von der er prophezeit, ist jetzt eine
Schnee- und Eiswüste. Dann scheint er aber anch die entgegengesetzte Höhe
des Walliserthales mehrmals betreten zu haben; denn es geht dort die Sage,
der ewige Jude sei dreimal über die Grimsel gewandert, und er habe sie zu¬
erst als Weinberg, dann als Tannenwald und zuletzt als Schneeberg ange¬
troffen. Ein solcher ist aber die Grimsel gewiß, und durch Holzmangel, Felsen-
slürze und Vorrücken der Gletscher wird sie es von Jahr zu Jahr mehr.

Ein Führer aus dem Bernerlande erzählte dem wiederholt genannten
Sagensammler von einer andern Gegend der Schweiz Aehnliches:

Vor langen Jahren soll das G'steigthal ein See gewesen sein, welcher
das Klima so mild gemacht hätte, das an seinen Ufern Reben gediehen wären.
Ans der „Abesite" (Westseite) stehen hoch oben an der Thalwand noch alte
Mauern, die ein Rest des Wirthshauses sein sollen, welches damals sich hier
befunden hätte. „Uf der Morgensite, z' hinterst im G'steig", d. h. südöstlich
im Winkel des Thales, wo der Saanetschpaß hinaufführt, ragt ein hoher
Felsenstock empor, der unmittelbar mit dem Gebirge zusammenhängt und mit
Wald und Gras bewachsen ist. Dorthin sollen die Leute an den Sonntagen
zu Schiffe gefahren sein, um ihren Gottesdienst zu halten. Noch jetzt trägt
dieser Felsenstock den Namen „die Burg". Auch zeigt man dort an der Fiuh
(Bergwand) noch einen eisernen Ring, an dem man ehedem die Schiffe befestigt
haben soll. Nachdem sich der See durch einen Ausbruch verlaufen, ist die
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[0345] wo er in Lustenau N'ar, blieb er bei Gevatter Jokubs über Nacht. Da ist ihm denn mich - und gewiß nicht zum ersten Mal — ein Kruzifix zu Ge¬ sicht get'ommeu, welches die Leute, wie gebräuchlich, im Hearawinkel (Herr- gottesN'iukel) aufgehängt hatten. Wie das der Jude gesehen hat, ist er in Entsetzen und Wuth gerathen. Ja wahrlich, die ganze große Sünde, die er begangen hat, muß ihm centnerschwer aufs Gewissen gefallen sein, sonst hätte er nicht in eine solche Wuth gerathen können. Endlich hat es den Juden wieder fortgetrieben auf seine ewige Wanderung, und die Leute sind gewiß froh gewesen, als er ihre Thüre hinter sich hatte, der bodenböse alte Mann." Ferner erzählt Vernaleken: An der südlichen Grenzscheide deutschen Landes ragt das Matterhorn empor, der westliche Nachbar des Monte Rosa. Da, wo jetzt die Visp einem Gletscher entströmt, soll nach Aussage der Umwohner vor Zeiten eine ansehnliche Stadt gestanden haben. Durch diese kam einmal „der laufende Jude", wie berichtet wird, und sprach: „Wenn ich zum zweiten Male hier durchwandere, so werden da, wo jetzt Häuser und Gassen sind, Bäume wachsen und Steine liegen. Und wenn mich zum dritten Male mein Weg hierherführt, wird nichts da sein als Schnee und Eis." Er muß nun wirklich schon dreimal das Matterhorn überschritten haben, denn an der Stelle, von der er prophezeit, ist jetzt eine Schnee- und Eiswüste. Dann scheint er aber anch die entgegengesetzte Höhe des Walliserthales mehrmals betreten zu haben; denn es geht dort die Sage, der ewige Jude sei dreimal über die Grimsel gewandert, und er habe sie zu¬ erst als Weinberg, dann als Tannenwald und zuletzt als Schneeberg ange¬ troffen. Ein solcher ist aber die Grimsel gewiß, und durch Holzmangel, Felsen- slürze und Vorrücken der Gletscher wird sie es von Jahr zu Jahr mehr. Ein Führer aus dem Bernerlande erzählte dem wiederholt genannten Sagensammler von einer andern Gegend der Schweiz Aehnliches: Vor langen Jahren soll das G'steigthal ein See gewesen sein, welcher das Klima so mild gemacht hätte, das an seinen Ufern Reben gediehen wären. Ans der „Abesite" (Westseite) stehen hoch oben an der Thalwand noch alte Mauern, die ein Rest des Wirthshauses sein sollen, welches damals sich hier befunden hätte. „Uf der Morgensite, z' hinterst im G'steig", d. h. südöstlich im Winkel des Thales, wo der Saanetschpaß hinaufführt, ragt ein hoher Felsenstock empor, der unmittelbar mit dem Gebirge zusammenhängt und mit Wald und Gras bewachsen ist. Dorthin sollen die Leute an den Sonntagen zu Schiffe gefahren sein, um ihren Gottesdienst zu halten. Noch jetzt trägt dieser Felsenstock den Namen „die Burg". Auch zeigt man dort an der Fiuh (Bergwand) noch einen eisernen Ring, an dem man ehedem die Schiffe befestigt haben soll. Nachdem sich der See durch einen Ausbruch verlaufen, ist die ' Grenzboten I, 1877. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/345>, abgerufen am 23.07.2024.