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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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im Folgenden finden, daß Ahasver oder Kartaphilus oder wie er sonst heißt,
kein Jude, sondern ein mythisches Mischlingsweseu ist, welches eine arabische
Mythe zur Mutter und den Sagenkreis von den Wanderungen germanischer
Götter zum Vater hat.

Wir sagten soeben, daß der ewige Jude oder, wie er hier und dn heißt,
der Wanderjude auch in Deutschland gesehen worden sei, nud es kann kurz
hinzugefügt werden, anch in französisch redenden Gegenden, wie er denn nach
der brüsseler Reimchronik im Mittelalter vor den Thoren der Hauptstadt Bra-
bants erschienen und von Bürgern derselben, die ihm begegneten, mit einem
Trunke kühlen Bieres gestärkt worden ist^). Beschränken wir uns auf die
deutsche Sagenwelt, so erzählt nach Vernaleken das Volk im untern Vorarl¬
berg, z. B. in Lustenau:

Von Zeit zu Zeit kommt der ewige Jude ins Land. Wenn die Alten
davon sprechen, fragen die Jungen: "Wann ist er denn das letzte Mal da¬
gewesen, und wann wird er wiederkommen?" Man merkt's dann, sie möchten
halt den Steinalten Mann, wie er mit seinem langen weißen Barte und in
seiner seltsamen Tracht am Wanderstabe daherläuft, auch einmal sehen. "Wann",
so erwidern darauf die alten Leute, die ihm begegnet sind, "der ewige Jude
wieder durch unser Dorf wandern wird, das läßt sich schwerlich sagen; denn
er muß in der ganzen Welt herumlaufen, soweit es Christenmenschen gibt,
zur Strafe dafür, daß er den Heiland von seiner Thür weggewiesen hat.
Denn als die Juden unsern Herrn auf den Kalvarienberg führten, wollte er
ermattet vom Tragen des schweren Kreuzes vor der Hausthür dieses Mannes
ein wenig niedersitzen und rasten. Wie ihn aber Christas um Erlaubniß dazu
bat, trieb ihn der Jude unbarmherzig von der Thüre weg. Darauf hat der
Herr zu ihm gesagt: "Weil du mir diese Rast nicht gegönnt hast, so sollst du
von Stund an wandern, so lange die Welt steht, bis an den jüngsten Tag!"
Und richtig, noch in der selbigen Stunde hat der Jude, welcher ein Schuh¬
macher war, sein Kind, das er auf dem Arme hatte, auf den Boden gestellt
und ist, ohne von seinem Weibe Abschied zu nehmen, alsogleich auf und hin-
aus in die Welt, wo er noch jetzt laufen und wandern muß und fortwandern
wird bis zum jüngsten Gericht. Damit er aber etwas zur Zehrung habe,
trägt er immer einen Groschen im Sack, und so oft er den ausgegeben hat,
länft er nnr dreimal um den Tisch herum, und wieder hat er eiuen Groschen
in der Tasche. Diesen Groschen wechselt er niemals, und überall, wo er ein¬
kehrt, verzehrt er nnr den, nicht mehr und uicht "veniger. Das letzte'Mal,



*) Er hieß hier Jsacck Laquedcm, ein Name, der mit dein hebräischen Kedem, d, h.
Osten, zusammenzuhängen scheint.

im Folgenden finden, daß Ahasver oder Kartaphilus oder wie er sonst heißt,
kein Jude, sondern ein mythisches Mischlingsweseu ist, welches eine arabische
Mythe zur Mutter und den Sagenkreis von den Wanderungen germanischer
Götter zum Vater hat.

Wir sagten soeben, daß der ewige Jude oder, wie er hier und dn heißt,
der Wanderjude auch in Deutschland gesehen worden sei, nud es kann kurz
hinzugefügt werden, anch in französisch redenden Gegenden, wie er denn nach
der brüsseler Reimchronik im Mittelalter vor den Thoren der Hauptstadt Bra-
bants erschienen und von Bürgern derselben, die ihm begegneten, mit einem
Trunke kühlen Bieres gestärkt worden ist^). Beschränken wir uns auf die
deutsche Sagenwelt, so erzählt nach Vernaleken das Volk im untern Vorarl¬
berg, z. B. in Lustenau:

Von Zeit zu Zeit kommt der ewige Jude ins Land. Wenn die Alten
davon sprechen, fragen die Jungen: „Wann ist er denn das letzte Mal da¬
gewesen, und wann wird er wiederkommen?" Man merkt's dann, sie möchten
halt den Steinalten Mann, wie er mit seinem langen weißen Barte und in
seiner seltsamen Tracht am Wanderstabe daherläuft, auch einmal sehen. „Wann",
so erwidern darauf die alten Leute, die ihm begegnet sind, „der ewige Jude
wieder durch unser Dorf wandern wird, das läßt sich schwerlich sagen; denn
er muß in der ganzen Welt herumlaufen, soweit es Christenmenschen gibt,
zur Strafe dafür, daß er den Heiland von seiner Thür weggewiesen hat.
Denn als die Juden unsern Herrn auf den Kalvarienberg führten, wollte er
ermattet vom Tragen des schweren Kreuzes vor der Hausthür dieses Mannes
ein wenig niedersitzen und rasten. Wie ihn aber Christas um Erlaubniß dazu
bat, trieb ihn der Jude unbarmherzig von der Thüre weg. Darauf hat der
Herr zu ihm gesagt: „Weil du mir diese Rast nicht gegönnt hast, so sollst du
von Stund an wandern, so lange die Welt steht, bis an den jüngsten Tag!"
Und richtig, noch in der selbigen Stunde hat der Jude, welcher ein Schuh¬
macher war, sein Kind, das er auf dem Arme hatte, auf den Boden gestellt
und ist, ohne von seinem Weibe Abschied zu nehmen, alsogleich auf und hin-
aus in die Welt, wo er noch jetzt laufen und wandern muß und fortwandern
wird bis zum jüngsten Gericht. Damit er aber etwas zur Zehrung habe,
trägt er immer einen Groschen im Sack, und so oft er den ausgegeben hat,
länft er nnr dreimal um den Tisch herum, und wieder hat er eiuen Groschen
in der Tasche. Diesen Groschen wechselt er niemals, und überall, wo er ein¬
kehrt, verzehrt er nnr den, nicht mehr und uicht »veniger. Das letzte'Mal,



*) Er hieß hier Jsacck Laquedcm, ein Name, der mit dein hebräischen Kedem, d, h.
Osten, zusammenzuhängen scheint.
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[0344] im Folgenden finden, daß Ahasver oder Kartaphilus oder wie er sonst heißt, kein Jude, sondern ein mythisches Mischlingsweseu ist, welches eine arabische Mythe zur Mutter und den Sagenkreis von den Wanderungen germanischer Götter zum Vater hat. Wir sagten soeben, daß der ewige Jude oder, wie er hier und dn heißt, der Wanderjude auch in Deutschland gesehen worden sei, nud es kann kurz hinzugefügt werden, anch in französisch redenden Gegenden, wie er denn nach der brüsseler Reimchronik im Mittelalter vor den Thoren der Hauptstadt Bra- bants erschienen und von Bürgern derselben, die ihm begegneten, mit einem Trunke kühlen Bieres gestärkt worden ist^). Beschränken wir uns auf die deutsche Sagenwelt, so erzählt nach Vernaleken das Volk im untern Vorarl¬ berg, z. B. in Lustenau: Von Zeit zu Zeit kommt der ewige Jude ins Land. Wenn die Alten davon sprechen, fragen die Jungen: „Wann ist er denn das letzte Mal da¬ gewesen, und wann wird er wiederkommen?" Man merkt's dann, sie möchten halt den Steinalten Mann, wie er mit seinem langen weißen Barte und in seiner seltsamen Tracht am Wanderstabe daherläuft, auch einmal sehen. „Wann", so erwidern darauf die alten Leute, die ihm begegnet sind, „der ewige Jude wieder durch unser Dorf wandern wird, das läßt sich schwerlich sagen; denn er muß in der ganzen Welt herumlaufen, soweit es Christenmenschen gibt, zur Strafe dafür, daß er den Heiland von seiner Thür weggewiesen hat. Denn als die Juden unsern Herrn auf den Kalvarienberg führten, wollte er ermattet vom Tragen des schweren Kreuzes vor der Hausthür dieses Mannes ein wenig niedersitzen und rasten. Wie ihn aber Christas um Erlaubniß dazu bat, trieb ihn der Jude unbarmherzig von der Thüre weg. Darauf hat der Herr zu ihm gesagt: „Weil du mir diese Rast nicht gegönnt hast, so sollst du von Stund an wandern, so lange die Welt steht, bis an den jüngsten Tag!" Und richtig, noch in der selbigen Stunde hat der Jude, welcher ein Schuh¬ macher war, sein Kind, das er auf dem Arme hatte, auf den Boden gestellt und ist, ohne von seinem Weibe Abschied zu nehmen, alsogleich auf und hin- aus in die Welt, wo er noch jetzt laufen und wandern muß und fortwandern wird bis zum jüngsten Gericht. Damit er aber etwas zur Zehrung habe, trägt er immer einen Groschen im Sack, und so oft er den ausgegeben hat, länft er nnr dreimal um den Tisch herum, und wieder hat er eiuen Groschen in der Tasche. Diesen Groschen wechselt er niemals, und überall, wo er ein¬ kehrt, verzehrt er nnr den, nicht mehr und uicht »veniger. Das letzte'Mal, *) Er hieß hier Jsacck Laquedcm, ein Name, der mit dein hebräischen Kedem, d, h. Osten, zusammenzuhängen scheint.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/344>, abgerufen am 23.07.2024.