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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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der Schüler nicht nur das, was er von Methode in sich aufnahm, nach eigenem
Denken anzuwenden und weiterzubilden hat, sondern sich auch in seinen
Stoff ohne Gängelband hineinfinden, selbständig prüfen und forschen muß, ob
nicht unrichtig verwertetes oder zu wenig beachtetes Material vorhanden ist.

Auch hier gibt' es eine zwiefache Richtung in der Handhabung, Ent¬
weder beschäftigt sich der Arbeitende uach Beliebe", oft Jahre laug, mit einem
selbstgefnndenen oder ihm vom Lehrer überwiesenen Stoffe, oder es wird von
ihm verlangt, daß er in jedem Semester eine Abhandlung einreiche. Dort
wird Tiefe und Gründlichkeit angebahnt und die Gefahr der Zersplitterung
weniger nahe gelegt, doch ergeben sich als Schattenseiten, daß der Schreibende
viel zu früh einseitig, daß er schwerfällig und langsam im Schaffen, ja sogar
träge wird. Hier ist weniger Raum für Trägheit und Einseitigkeit, zumal
aber in Betreff jüngerer Leute, die in ihren wissenschaftlichen Bewegungen noch
ungelenk siud und mit ihrer Zeit noch uicht richtig hauszuhalten wissen, ein
desto fruchtbarerer Boden für Zersplitterung und Flüchtigkeit, welche letztere
durch die in wenigen Tagen zu liefernden Referate, worin der Referent über
Dinge urtheilen muß, die ihm meistens fremd, oft gleichgültig sind, reichen
Vorschub erhält. Gelegentliche Nachsicht des Docenten gegen denjenigen, welcher
seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen vermochte, ändert an der Sache
nichts.

Zumal bei der zuletzt besprochenen Methode lautet die fast stereotyp ge¬
wordene Klage der Seminarvorsteher über eingelieferte schriftliche Arbeiten:
die Verfertiger derselben sind unsicher im Latein und haben die nöthigen
Quellen und die einschlägige Literatur nicht ausreichend gekannt. Sie be¬
zeichneten damit die Gruudgebrechen unserer gesammten SeminartlMigkeit.
Es wird das Höhere getrieben, der Unterban als selbstverständlich voraus¬
gesetzt.

Und doch ist das mittelalterliche Latein bekanntlich sehr verschieden von
dein klassischen, und nnr dies wird auf Schulen gelehrt. Das verhältnißmäßig
Wenige, was in den Uebungen und Seminaren gelesen, und mehr noch der
Gesichtspunkt, von dein aus es meistens durchgenommen wird, ist ebenso un¬
genügend, der positiven Unkenntniß abzuhelfen, als die Monika des Docenten
bei schriftlichen Arbeiten, indem sich hier nnr ein verschwindend kleiner Bruch-
theil von dem niedergelegt findet, was der Studirende hat in sich aufnehmen
müssen. Woher soll der an ein klassisches Latein Gewöhnte wissen, daß U-alm
im Mittelalter vielfach technisch gebraucht wird, daß un<:tornus oft mit "Ur¬
kunde" zu übersetzen ist? Er merkt entweder solche Unterschiede gar nicht,
oder er übergeht sie; beides verwerflich und der vornehmlichste Grund, woher
bisweilen bei jüngeren Historikern, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen,


der Schüler nicht nur das, was er von Methode in sich aufnahm, nach eigenem
Denken anzuwenden und weiterzubilden hat, sondern sich auch in seinen
Stoff ohne Gängelband hineinfinden, selbständig prüfen und forschen muß, ob
nicht unrichtig verwertetes oder zu wenig beachtetes Material vorhanden ist.

Auch hier gibt' es eine zwiefache Richtung in der Handhabung, Ent¬
weder beschäftigt sich der Arbeitende uach Beliebe«, oft Jahre laug, mit einem
selbstgefnndenen oder ihm vom Lehrer überwiesenen Stoffe, oder es wird von
ihm verlangt, daß er in jedem Semester eine Abhandlung einreiche. Dort
wird Tiefe und Gründlichkeit angebahnt und die Gefahr der Zersplitterung
weniger nahe gelegt, doch ergeben sich als Schattenseiten, daß der Schreibende
viel zu früh einseitig, daß er schwerfällig und langsam im Schaffen, ja sogar
träge wird. Hier ist weniger Raum für Trägheit und Einseitigkeit, zumal
aber in Betreff jüngerer Leute, die in ihren wissenschaftlichen Bewegungen noch
ungelenk siud und mit ihrer Zeit noch uicht richtig hauszuhalten wissen, ein
desto fruchtbarerer Boden für Zersplitterung und Flüchtigkeit, welche letztere
durch die in wenigen Tagen zu liefernden Referate, worin der Referent über
Dinge urtheilen muß, die ihm meistens fremd, oft gleichgültig sind, reichen
Vorschub erhält. Gelegentliche Nachsicht des Docenten gegen denjenigen, welcher
seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen vermochte, ändert an der Sache
nichts.

Zumal bei der zuletzt besprochenen Methode lautet die fast stereotyp ge¬
wordene Klage der Seminarvorsteher über eingelieferte schriftliche Arbeiten:
die Verfertiger derselben sind unsicher im Latein und haben die nöthigen
Quellen und die einschlägige Literatur nicht ausreichend gekannt. Sie be¬
zeichneten damit die Gruudgebrechen unserer gesammten SeminartlMigkeit.
Es wird das Höhere getrieben, der Unterban als selbstverständlich voraus¬
gesetzt.

Und doch ist das mittelalterliche Latein bekanntlich sehr verschieden von
dein klassischen, und nnr dies wird auf Schulen gelehrt. Das verhältnißmäßig
Wenige, was in den Uebungen und Seminaren gelesen, und mehr noch der
Gesichtspunkt, von dein aus es meistens durchgenommen wird, ist ebenso un¬
genügend, der positiven Unkenntniß abzuhelfen, als die Monika des Docenten
bei schriftlichen Arbeiten, indem sich hier nnr ein verschwindend kleiner Bruch-
theil von dem niedergelegt findet, was der Studirende hat in sich aufnehmen
müssen. Woher soll der an ein klassisches Latein Gewöhnte wissen, daß U-alm
im Mittelalter vielfach technisch gebraucht wird, daß un<:tornus oft mit „Ur¬
kunde" zu übersetzen ist? Er merkt entweder solche Unterschiede gar nicht,
oder er übergeht sie; beides verwerflich und der vornehmlichste Grund, woher
bisweilen bei jüngeren Historikern, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen,


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[0334] der Schüler nicht nur das, was er von Methode in sich aufnahm, nach eigenem Denken anzuwenden und weiterzubilden hat, sondern sich auch in seinen Stoff ohne Gängelband hineinfinden, selbständig prüfen und forschen muß, ob nicht unrichtig verwertetes oder zu wenig beachtetes Material vorhanden ist. Auch hier gibt' es eine zwiefache Richtung in der Handhabung, Ent¬ weder beschäftigt sich der Arbeitende uach Beliebe«, oft Jahre laug, mit einem selbstgefnndenen oder ihm vom Lehrer überwiesenen Stoffe, oder es wird von ihm verlangt, daß er in jedem Semester eine Abhandlung einreiche. Dort wird Tiefe und Gründlichkeit angebahnt und die Gefahr der Zersplitterung weniger nahe gelegt, doch ergeben sich als Schattenseiten, daß der Schreibende viel zu früh einseitig, daß er schwerfällig und langsam im Schaffen, ja sogar träge wird. Hier ist weniger Raum für Trägheit und Einseitigkeit, zumal aber in Betreff jüngerer Leute, die in ihren wissenschaftlichen Bewegungen noch ungelenk siud und mit ihrer Zeit noch uicht richtig hauszuhalten wissen, ein desto fruchtbarerer Boden für Zersplitterung und Flüchtigkeit, welche letztere durch die in wenigen Tagen zu liefernden Referate, worin der Referent über Dinge urtheilen muß, die ihm meistens fremd, oft gleichgültig sind, reichen Vorschub erhält. Gelegentliche Nachsicht des Docenten gegen denjenigen, welcher seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen vermochte, ändert an der Sache nichts. Zumal bei der zuletzt besprochenen Methode lautet die fast stereotyp ge¬ wordene Klage der Seminarvorsteher über eingelieferte schriftliche Arbeiten: die Verfertiger derselben sind unsicher im Latein und haben die nöthigen Quellen und die einschlägige Literatur nicht ausreichend gekannt. Sie be¬ zeichneten damit die Gruudgebrechen unserer gesammten SeminartlMigkeit. Es wird das Höhere getrieben, der Unterban als selbstverständlich voraus¬ gesetzt. Und doch ist das mittelalterliche Latein bekanntlich sehr verschieden von dein klassischen, und nnr dies wird auf Schulen gelehrt. Das verhältnißmäßig Wenige, was in den Uebungen und Seminaren gelesen, und mehr noch der Gesichtspunkt, von dein aus es meistens durchgenommen wird, ist ebenso un¬ genügend, der positiven Unkenntniß abzuhelfen, als die Monika des Docenten bei schriftlichen Arbeiten, indem sich hier nnr ein verschwindend kleiner Bruch- theil von dem niedergelegt findet, was der Studirende hat in sich aufnehmen müssen. Woher soll der an ein klassisches Latein Gewöhnte wissen, daß U-alm im Mittelalter vielfach technisch gebraucht wird, daß un<:tornus oft mit „Ur¬ kunde" zu übersetzen ist? Er merkt entweder solche Unterschiede gar nicht, oder er übergeht sie; beides verwerflich und der vornehmlichste Grund, woher bisweilen bei jüngeren Historikern, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/334>, abgerufen am 23.07.2024.