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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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haften Docenten gewöhnt wurde, sich wesentlich in einer und derselben Richtung
zu bewegen, wenn auch hier die Gefahr nahe liegt, daß der Schatten der Ein¬
seitigkeit besonders tief falle.

Bald auf gut Glück, bald auf Rath hört der junge Studirende Vorlesungen,
in denen sich ihm zuerst der Begriff der Geschichte als Wissenschaft eröffnet;
er erfährt von den vielen Controversen, welche herrschen, von dem mangelhaften
Materiale, wie es auf uns gekommen ist, von der Art desselben u. s. w. Das
hübsche Bild, welches er sich von dem großen Otto, dem gewaltigen Barba¬
rossa und dem treuen Ernst zur Universität mitgebracht hatte, fängt an, ge¬
trübt zu werden; er lernt verstehen, daß es oft mehr auf Verfassungs- und
Kulturleben, als auf gewonnene Schlachten ankommt. Im Ganzen jedoch haben
die Vorlesungen mehr den Zweck, anzuregen und die Summe positiver Kennt¬
nisse zu erweitern, als zum Fachmanne auszubilden; dies ist vornehmlich Se¬
minaren und "Uebungen" zugewiesen.

Die dort entwickelte Thätigkeit ist fast so verschieden, wie die Persönlich¬
keiten, welche den Seminaren vorstehen, und da die meisten jungen Historiker
sich überwiegend lange an einem und demselben Orte auszuhalten Pflegen, so geht
die Einwirkung des Lehrers, dem sie sich vorzugsweise anschlössen, eben weil
sie individueller Natur ist, gewöhnlich sehr tief und prägt sich bisweilen in
ganz bestimmten Merkmalen aus, die sich mehr oder weniger an Allen beob¬
achten lassen, welche von derselben Seite beeinflußt werden. In solchem Sinne
kann man deshalb mit bestem Rechte von einer Göttinger und einer Bonner,
beziehungsweise von einer Sybelschen und Waitzischcn Schule reden.

Verschiedener äußerer Umstände wegen pflegt der Stoff für die Semi¬
nare aus dem Alterthume oder dem Mittelalter gewählt zu werden, vor¬
wiegend aus letzterem, worauf wir deshalb auch in erster Linie Rücksicht
nehmen. Die BeHandlungsweise des Materials ist eine dreifache, hauptsächlich
zu unterscheidende.

Entweder wird eine Quellenschrift historischen, rechtlichen oder kirchlichen
Inhaltes gelesen und ausgelegt, Exkurse werden eingestreut über Papst-, Kö¬
nigs- und Bischofswahlen, über germanische Principes, den römischen Prinzipal,
über Ministerialität, Translationen, Titel ?c., kurz, aus dem ganzen weiten
Gebiete des Alterthums und Mittelalters in Rechts- und Verfassungs-, politi¬
schem und sozialem Leben. Der Seminarist erhält von einer Menge Einzel¬
heiten ausreichende Vorstellung, er bedarf eines ganzen Semesters, um einen Theil
des Einhard oder Wipo kennen zu lernen, für sie gewinnt er Interesse, was
rechts und links von ihnen liegt, tritt dagegen zurück. Die Zahl der Semester
bedingt die Umsicht. Hierbei pflegt das urkundliche Material zu kurz zu kommen,


haften Docenten gewöhnt wurde, sich wesentlich in einer und derselben Richtung
zu bewegen, wenn auch hier die Gefahr nahe liegt, daß der Schatten der Ein¬
seitigkeit besonders tief falle.

Bald auf gut Glück, bald auf Rath hört der junge Studirende Vorlesungen,
in denen sich ihm zuerst der Begriff der Geschichte als Wissenschaft eröffnet;
er erfährt von den vielen Controversen, welche herrschen, von dem mangelhaften
Materiale, wie es auf uns gekommen ist, von der Art desselben u. s. w. Das
hübsche Bild, welches er sich von dem großen Otto, dem gewaltigen Barba¬
rossa und dem treuen Ernst zur Universität mitgebracht hatte, fängt an, ge¬
trübt zu werden; er lernt verstehen, daß es oft mehr auf Verfassungs- und
Kulturleben, als auf gewonnene Schlachten ankommt. Im Ganzen jedoch haben
die Vorlesungen mehr den Zweck, anzuregen und die Summe positiver Kennt¬
nisse zu erweitern, als zum Fachmanne auszubilden; dies ist vornehmlich Se¬
minaren und „Uebungen" zugewiesen.

Die dort entwickelte Thätigkeit ist fast so verschieden, wie die Persönlich¬
keiten, welche den Seminaren vorstehen, und da die meisten jungen Historiker
sich überwiegend lange an einem und demselben Orte auszuhalten Pflegen, so geht
die Einwirkung des Lehrers, dem sie sich vorzugsweise anschlössen, eben weil
sie individueller Natur ist, gewöhnlich sehr tief und prägt sich bisweilen in
ganz bestimmten Merkmalen aus, die sich mehr oder weniger an Allen beob¬
achten lassen, welche von derselben Seite beeinflußt werden. In solchem Sinne
kann man deshalb mit bestem Rechte von einer Göttinger und einer Bonner,
beziehungsweise von einer Sybelschen und Waitzischcn Schule reden.

Verschiedener äußerer Umstände wegen pflegt der Stoff für die Semi¬
nare aus dem Alterthume oder dem Mittelalter gewählt zu werden, vor¬
wiegend aus letzterem, worauf wir deshalb auch in erster Linie Rücksicht
nehmen. Die BeHandlungsweise des Materials ist eine dreifache, hauptsächlich
zu unterscheidende.

Entweder wird eine Quellenschrift historischen, rechtlichen oder kirchlichen
Inhaltes gelesen und ausgelegt, Exkurse werden eingestreut über Papst-, Kö¬
nigs- und Bischofswahlen, über germanische Principes, den römischen Prinzipal,
über Ministerialität, Translationen, Titel ?c., kurz, aus dem ganzen weiten
Gebiete des Alterthums und Mittelalters in Rechts- und Verfassungs-, politi¬
schem und sozialem Leben. Der Seminarist erhält von einer Menge Einzel¬
heiten ausreichende Vorstellung, er bedarf eines ganzen Semesters, um einen Theil
des Einhard oder Wipo kennen zu lernen, für sie gewinnt er Interesse, was
rechts und links von ihnen liegt, tritt dagegen zurück. Die Zahl der Semester
bedingt die Umsicht. Hierbei pflegt das urkundliche Material zu kurz zu kommen,


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[0332] haften Docenten gewöhnt wurde, sich wesentlich in einer und derselben Richtung zu bewegen, wenn auch hier die Gefahr nahe liegt, daß der Schatten der Ein¬ seitigkeit besonders tief falle. Bald auf gut Glück, bald auf Rath hört der junge Studirende Vorlesungen, in denen sich ihm zuerst der Begriff der Geschichte als Wissenschaft eröffnet; er erfährt von den vielen Controversen, welche herrschen, von dem mangelhaften Materiale, wie es auf uns gekommen ist, von der Art desselben u. s. w. Das hübsche Bild, welches er sich von dem großen Otto, dem gewaltigen Barba¬ rossa und dem treuen Ernst zur Universität mitgebracht hatte, fängt an, ge¬ trübt zu werden; er lernt verstehen, daß es oft mehr auf Verfassungs- und Kulturleben, als auf gewonnene Schlachten ankommt. Im Ganzen jedoch haben die Vorlesungen mehr den Zweck, anzuregen und die Summe positiver Kennt¬ nisse zu erweitern, als zum Fachmanne auszubilden; dies ist vornehmlich Se¬ minaren und „Uebungen" zugewiesen. Die dort entwickelte Thätigkeit ist fast so verschieden, wie die Persönlich¬ keiten, welche den Seminaren vorstehen, und da die meisten jungen Historiker sich überwiegend lange an einem und demselben Orte auszuhalten Pflegen, so geht die Einwirkung des Lehrers, dem sie sich vorzugsweise anschlössen, eben weil sie individueller Natur ist, gewöhnlich sehr tief und prägt sich bisweilen in ganz bestimmten Merkmalen aus, die sich mehr oder weniger an Allen beob¬ achten lassen, welche von derselben Seite beeinflußt werden. In solchem Sinne kann man deshalb mit bestem Rechte von einer Göttinger und einer Bonner, beziehungsweise von einer Sybelschen und Waitzischcn Schule reden. Verschiedener äußerer Umstände wegen pflegt der Stoff für die Semi¬ nare aus dem Alterthume oder dem Mittelalter gewählt zu werden, vor¬ wiegend aus letzterem, worauf wir deshalb auch in erster Linie Rücksicht nehmen. Die BeHandlungsweise des Materials ist eine dreifache, hauptsächlich zu unterscheidende. Entweder wird eine Quellenschrift historischen, rechtlichen oder kirchlichen Inhaltes gelesen und ausgelegt, Exkurse werden eingestreut über Papst-, Kö¬ nigs- und Bischofswahlen, über germanische Principes, den römischen Prinzipal, über Ministerialität, Translationen, Titel ?c., kurz, aus dem ganzen weiten Gebiete des Alterthums und Mittelalters in Rechts- und Verfassungs-, politi¬ schem und sozialem Leben. Der Seminarist erhält von einer Menge Einzel¬ heiten ausreichende Vorstellung, er bedarf eines ganzen Semesters, um einen Theil des Einhard oder Wipo kennen zu lernen, für sie gewinnt er Interesse, was rechts und links von ihnen liegt, tritt dagegen zurück. Die Zahl der Semester bedingt die Umsicht. Hierbei pflegt das urkundliche Material zu kurz zu kommen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/332>, abgerufen am 23.07.2024.