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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Unsre Herren Staatslenker mögen mit Recht vor dem Ausfall der Wahlen
erschrocken sein: sie müssen sich sagen, daß es an ihnen gelegen Hütte, Manches
zu verhüten, nicht jetzt -- da war's zu spät -- aber früher, viel früher. Die
reaktionären Saaten eines v. d. Pforten, Reigersberg u. A. sind jetzt aufgegangen.
Der Ultramontanismus hätte nie seine jetzige herausfordernde, übermächtige
Stellung einnehmen können, wenn sich der Staat von jeher seiner Kraft --
und seiner Würde bewußt gewesen wäre, wenn er den Clerus in seine Schranken
zurückgewiesen hätte. Kein Staat in der Welt hat in Verfassung und Con-
cordat solche Handhaben und Waffen gegen Uebergriffe der Curie wie Bayern,
aber man hat diese ruhig liegen und verrosten lassen, ja lieber mit jener ge¬
liebäugelt, um seiner reaktionären Gelüste und Ziele desto sicherer zu sein.
Hätte man damals, als unsere tapfern Soldaten auf den Schlachtfeldern
Frankreichs mit ihren deutschen Brüdern in Blutgemeinschaft getreten waren,
als die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 die auf ganz anderen staats¬
rechtlichen Grundlagen gewählten Volksvertreter überholt hatten, sich zur Auf¬
lösung der Kammer entschließen können und an die Stimme des Landes appel-
lirt -- ein anderer bayrischer Landtag wäre zusammengetreten, andere Wahlen
wären für das Parlament zu Stande gekommen, die reichsfeindlichen Gedanken
und Bestrebungen, die nun den Ton unter den bayrischen Abgeordneten hier
und dort angeben, hätten nimmermehr die Oberhand gewonnen. Aber seit
Jahren ist das bayrische Ministerium das der verfehlten Gelegenheiten -- an¬
statt die liberale Gesinnung des Volks zu fördern und zu kräftigen, traut es
der liberalen Partei nicht und willfahrt sogar gerne den Anträgen der Ultra-
montanen und Conservativen, weil es bei dem Mangel eines vollkommen muster¬
gültigen Gewissens in politischen Dingen die Augriffe der Liberalen fürchtet.

Nächstdem mögen aber anch die Liberalen selbst und ihre Führer einen
guten Theil der Schuld an dem, was bei unsern Wahlen, und auch wohl
anderswo, an Fehlern und Gebrechen zu Tage getreten ist, auf sich nehmen.
Ans der einen Seite war zu wenig Fühlung mit den eignen Gesinnungsge¬
nossen, viel zu wenig Organisation, Disciplin und was man sonst noch braucht,
und worin die Gegner so ausgezeichnet geschult waren -- auf der andern viel
zu viel Sicherheit, Voreingenommenheit, stolze Gewißheit eines sichern Erfolges
vorhanden. Kirchthurm-, Lokal-, Persvualinteressen, im Großen wie im Kleinen,
thaten das ihre, die Stimmen zu zersplittern, statt zu einen. Wo man die
Wähler am nöthigsten brauchte, waren sie vielleicht gerade am wenigsten am
Platze. Von den feindlichen Parteien haben gewiß über 90 Prozent der Wahl¬
berechtigen, von den Liberalen dagegen vielleicht nur 50 ihrer Pflicht genügt.
Lauheit und Passivität sind noch immer die gefährlichsten Feinde der guten
Sache. Das Bewußtsein, daß man nicht nur Politische Rechte, sondern auch


Grenzboten I. 1L77. 40

Unsre Herren Staatslenker mögen mit Recht vor dem Ausfall der Wahlen
erschrocken sein: sie müssen sich sagen, daß es an ihnen gelegen Hütte, Manches
zu verhüten, nicht jetzt — da war's zu spät — aber früher, viel früher. Die
reaktionären Saaten eines v. d. Pforten, Reigersberg u. A. sind jetzt aufgegangen.
Der Ultramontanismus hätte nie seine jetzige herausfordernde, übermächtige
Stellung einnehmen können, wenn sich der Staat von jeher seiner Kraft —
und seiner Würde bewußt gewesen wäre, wenn er den Clerus in seine Schranken
zurückgewiesen hätte. Kein Staat in der Welt hat in Verfassung und Con-
cordat solche Handhaben und Waffen gegen Uebergriffe der Curie wie Bayern,
aber man hat diese ruhig liegen und verrosten lassen, ja lieber mit jener ge¬
liebäugelt, um seiner reaktionären Gelüste und Ziele desto sicherer zu sein.
Hätte man damals, als unsere tapfern Soldaten auf den Schlachtfeldern
Frankreichs mit ihren deutschen Brüdern in Blutgemeinschaft getreten waren,
als die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 die auf ganz anderen staats¬
rechtlichen Grundlagen gewählten Volksvertreter überholt hatten, sich zur Auf¬
lösung der Kammer entschließen können und an die Stimme des Landes appel-
lirt — ein anderer bayrischer Landtag wäre zusammengetreten, andere Wahlen
wären für das Parlament zu Stande gekommen, die reichsfeindlichen Gedanken
und Bestrebungen, die nun den Ton unter den bayrischen Abgeordneten hier
und dort angeben, hätten nimmermehr die Oberhand gewonnen. Aber seit
Jahren ist das bayrische Ministerium das der verfehlten Gelegenheiten — an¬
statt die liberale Gesinnung des Volks zu fördern und zu kräftigen, traut es
der liberalen Partei nicht und willfahrt sogar gerne den Anträgen der Ultra-
montanen und Conservativen, weil es bei dem Mangel eines vollkommen muster¬
gültigen Gewissens in politischen Dingen die Augriffe der Liberalen fürchtet.

Nächstdem mögen aber anch die Liberalen selbst und ihre Führer einen
guten Theil der Schuld an dem, was bei unsern Wahlen, und auch wohl
anderswo, an Fehlern und Gebrechen zu Tage getreten ist, auf sich nehmen.
Ans der einen Seite war zu wenig Fühlung mit den eignen Gesinnungsge¬
nossen, viel zu wenig Organisation, Disciplin und was man sonst noch braucht,
und worin die Gegner so ausgezeichnet geschult waren — auf der andern viel
zu viel Sicherheit, Voreingenommenheit, stolze Gewißheit eines sichern Erfolges
vorhanden. Kirchthurm-, Lokal-, Persvualinteressen, im Großen wie im Kleinen,
thaten das ihre, die Stimmen zu zersplittern, statt zu einen. Wo man die
Wähler am nöthigsten brauchte, waren sie vielleicht gerade am wenigsten am
Platze. Von den feindlichen Parteien haben gewiß über 90 Prozent der Wahl¬
berechtigen, von den Liberalen dagegen vielleicht nur 50 ihrer Pflicht genügt.
Lauheit und Passivität sind noch immer die gefährlichsten Feinde der guten
Sache. Das Bewußtsein, daß man nicht nur Politische Rechte, sondern auch


Grenzboten I. 1L77. 40
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[0321] Unsre Herren Staatslenker mögen mit Recht vor dem Ausfall der Wahlen erschrocken sein: sie müssen sich sagen, daß es an ihnen gelegen Hütte, Manches zu verhüten, nicht jetzt — da war's zu spät — aber früher, viel früher. Die reaktionären Saaten eines v. d. Pforten, Reigersberg u. A. sind jetzt aufgegangen. Der Ultramontanismus hätte nie seine jetzige herausfordernde, übermächtige Stellung einnehmen können, wenn sich der Staat von jeher seiner Kraft — und seiner Würde bewußt gewesen wäre, wenn er den Clerus in seine Schranken zurückgewiesen hätte. Kein Staat in der Welt hat in Verfassung und Con- cordat solche Handhaben und Waffen gegen Uebergriffe der Curie wie Bayern, aber man hat diese ruhig liegen und verrosten lassen, ja lieber mit jener ge¬ liebäugelt, um seiner reaktionären Gelüste und Ziele desto sicherer zu sein. Hätte man damals, als unsere tapfern Soldaten auf den Schlachtfeldern Frankreichs mit ihren deutschen Brüdern in Blutgemeinschaft getreten waren, als die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 die auf ganz anderen staats¬ rechtlichen Grundlagen gewählten Volksvertreter überholt hatten, sich zur Auf¬ lösung der Kammer entschließen können und an die Stimme des Landes appel- lirt — ein anderer bayrischer Landtag wäre zusammengetreten, andere Wahlen wären für das Parlament zu Stande gekommen, die reichsfeindlichen Gedanken und Bestrebungen, die nun den Ton unter den bayrischen Abgeordneten hier und dort angeben, hätten nimmermehr die Oberhand gewonnen. Aber seit Jahren ist das bayrische Ministerium das der verfehlten Gelegenheiten — an¬ statt die liberale Gesinnung des Volks zu fördern und zu kräftigen, traut es der liberalen Partei nicht und willfahrt sogar gerne den Anträgen der Ultra- montanen und Conservativen, weil es bei dem Mangel eines vollkommen muster¬ gültigen Gewissens in politischen Dingen die Augriffe der Liberalen fürchtet. Nächstdem mögen aber anch die Liberalen selbst und ihre Führer einen guten Theil der Schuld an dem, was bei unsern Wahlen, und auch wohl anderswo, an Fehlern und Gebrechen zu Tage getreten ist, auf sich nehmen. Ans der einen Seite war zu wenig Fühlung mit den eignen Gesinnungsge¬ nossen, viel zu wenig Organisation, Disciplin und was man sonst noch braucht, und worin die Gegner so ausgezeichnet geschult waren — auf der andern viel zu viel Sicherheit, Voreingenommenheit, stolze Gewißheit eines sichern Erfolges vorhanden. Kirchthurm-, Lokal-, Persvualinteressen, im Großen wie im Kleinen, thaten das ihre, die Stimmen zu zersplittern, statt zu einen. Wo man die Wähler am nöthigsten brauchte, waren sie vielleicht gerade am wenigsten am Platze. Von den feindlichen Parteien haben gewiß über 90 Prozent der Wahl¬ berechtigen, von den Liberalen dagegen vielleicht nur 50 ihrer Pflicht genügt. Lauheit und Passivität sind noch immer die gefährlichsten Feinde der guten Sache. Das Bewußtsein, daß man nicht nur Politische Rechte, sondern auch Grenzboten I. 1L77. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/321>, abgerufen am 23.07.2024.