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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Schlagworie: "Der Liberalismus an allem politischen und wirtschaftlichen Un¬
heil schuld, die Religion in Gefahr, die Schule entchristlicht" u, s. w.! Dabei
tritt hier und da mit den "reichspostlerischen" (man nennt so die Partei
nach ihrem Hauptorgan, der nun von Augsburg nach Frankfurt verlegten
"Reichspost") Pfarrern ein Agrarier, so namentlich ein Baron von Thüngen,
vor das Landvolk hin und wirft erhitzende Phrasen von der "Herrschaft des
Kapitals", von den "Gründern", welche er alle über einen Kamm schiert und
allesammt als "Betrüger" charakterisirt, dazwischen auch etwas Judenhetze
unter die Masse -- und "Lempvr alle^mia naerLt", die Leute glauben's am
Ende doch, und die Deutscheonservativen gewinnen von Tag zu Tag mehr
Einfluß und Boden.

Der zweite der oben genannten bisherigen fortschrittlichen Abgeordneten, Er¬
hard, hat dasselbe von ihnen zu erfahren gehabt, was sein College Frankenburger von
den Sozialdemokraten: er ist in seinem Wahlbezirk Dinkelsbühl-Feuchtwangen
seinem conservativen Gegner, Regierungsrath Luthard von Augsburg, dem
eigentliche" Stifter und Leiter der "Reichspost", zwar nicht so unterlegen, daß
dieser mehr Stimmen erhalten hätte, aber die Majorität hat er eben nicht zu¬
sammengebracht: auch da muß es zur Stichwahl kommen. Sie wird eine
ernste Probe für die Herren Conservativen sein. Diese können in dem ge¬
nannten Wahlkreise siegen, wenn sie die Unterstützung der in demselben eine
bemerkenswerthe Minorität bildenden Ultramontanen annehmen, und diese Un¬
terstützung ist ihnen angeboten. Für ihre liberalen Gegner könnte es am
Ende erwünscht sein, daß, selbst auf die Gefahr hin, diesen Posten momentan
verloren zu sehen, jener Compromiß zu Stande käme -- denn damit wäre
jene Partei, die bisher immer so emphatisch und hoch und theuer jede Gemein¬
schaft mit und jede Hinneigung zu den Römlingen abgeleugnet und von sich
gewiesen hat, so compromittirt, daß sie für die Folge lahm gelegt wäre und
vom politischen Schallplatz abtreten müßte. In Nürnberg hat ihr Führer Lut¬
hard die Parole ausgegeben, im Kampf der engeren Wahl für den fortschritt¬
lichen Candidaten gegen den sozialdemokratischen einzutreten. Das ist aner-
kennenswerth -- aber die Consequenz dieser richtigen Anschauung der
Dinge wäre nun auch die Ablehnung jener ultramontanen Unterstützung.

Fragen wir nun noch, wie es möglich war, daß eine solche Gefährdung
der bisherigen Position der liberalen Parteien, wie sie doch offenbar in dem
Erstarken der Sozialdemokratie und der Conservativen vorliegt, eintreten konnte,
an wem die Schuld -- und eine Schuld muß doch hier vorhanden sein --
liegt, so mögen sich Regierung, Volk und Führer des Volks in diese
theilen.


Schlagworie: „Der Liberalismus an allem politischen und wirtschaftlichen Un¬
heil schuld, die Religion in Gefahr, die Schule entchristlicht" u, s. w.! Dabei
tritt hier und da mit den „reichspostlerischen" (man nennt so die Partei
nach ihrem Hauptorgan, der nun von Augsburg nach Frankfurt verlegten
„Reichspost") Pfarrern ein Agrarier, so namentlich ein Baron von Thüngen,
vor das Landvolk hin und wirft erhitzende Phrasen von der „Herrschaft des
Kapitals", von den „Gründern", welche er alle über einen Kamm schiert und
allesammt als „Betrüger" charakterisirt, dazwischen auch etwas Judenhetze
unter die Masse — und „Lempvr alle^mia naerLt", die Leute glauben's am
Ende doch, und die Deutscheonservativen gewinnen von Tag zu Tag mehr
Einfluß und Boden.

Der zweite der oben genannten bisherigen fortschrittlichen Abgeordneten, Er¬
hard, hat dasselbe von ihnen zu erfahren gehabt, was sein College Frankenburger von
den Sozialdemokraten: er ist in seinem Wahlbezirk Dinkelsbühl-Feuchtwangen
seinem conservativen Gegner, Regierungsrath Luthard von Augsburg, dem
eigentliche« Stifter und Leiter der „Reichspost", zwar nicht so unterlegen, daß
dieser mehr Stimmen erhalten hätte, aber die Majorität hat er eben nicht zu¬
sammengebracht: auch da muß es zur Stichwahl kommen. Sie wird eine
ernste Probe für die Herren Conservativen sein. Diese können in dem ge¬
nannten Wahlkreise siegen, wenn sie die Unterstützung der in demselben eine
bemerkenswerthe Minorität bildenden Ultramontanen annehmen, und diese Un¬
terstützung ist ihnen angeboten. Für ihre liberalen Gegner könnte es am
Ende erwünscht sein, daß, selbst auf die Gefahr hin, diesen Posten momentan
verloren zu sehen, jener Compromiß zu Stande käme — denn damit wäre
jene Partei, die bisher immer so emphatisch und hoch und theuer jede Gemein¬
schaft mit und jede Hinneigung zu den Römlingen abgeleugnet und von sich
gewiesen hat, so compromittirt, daß sie für die Folge lahm gelegt wäre und
vom politischen Schallplatz abtreten müßte. In Nürnberg hat ihr Führer Lut¬
hard die Parole ausgegeben, im Kampf der engeren Wahl für den fortschritt¬
lichen Candidaten gegen den sozialdemokratischen einzutreten. Das ist aner-
kennenswerth — aber die Consequenz dieser richtigen Anschauung der
Dinge wäre nun auch die Ablehnung jener ultramontanen Unterstützung.

Fragen wir nun noch, wie es möglich war, daß eine solche Gefährdung
der bisherigen Position der liberalen Parteien, wie sie doch offenbar in dem
Erstarken der Sozialdemokratie und der Conservativen vorliegt, eintreten konnte,
an wem die Schuld — und eine Schuld muß doch hier vorhanden sein —
liegt, so mögen sich Regierung, Volk und Führer des Volks in diese
theilen.


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[0320] Schlagworie: „Der Liberalismus an allem politischen und wirtschaftlichen Un¬ heil schuld, die Religion in Gefahr, die Schule entchristlicht" u, s. w.! Dabei tritt hier und da mit den „reichspostlerischen" (man nennt so die Partei nach ihrem Hauptorgan, der nun von Augsburg nach Frankfurt verlegten „Reichspost") Pfarrern ein Agrarier, so namentlich ein Baron von Thüngen, vor das Landvolk hin und wirft erhitzende Phrasen von der „Herrschaft des Kapitals", von den „Gründern", welche er alle über einen Kamm schiert und allesammt als „Betrüger" charakterisirt, dazwischen auch etwas Judenhetze unter die Masse — und „Lempvr alle^mia naerLt", die Leute glauben's am Ende doch, und die Deutscheonservativen gewinnen von Tag zu Tag mehr Einfluß und Boden. Der zweite der oben genannten bisherigen fortschrittlichen Abgeordneten, Er¬ hard, hat dasselbe von ihnen zu erfahren gehabt, was sein College Frankenburger von den Sozialdemokraten: er ist in seinem Wahlbezirk Dinkelsbühl-Feuchtwangen seinem conservativen Gegner, Regierungsrath Luthard von Augsburg, dem eigentliche« Stifter und Leiter der „Reichspost", zwar nicht so unterlegen, daß dieser mehr Stimmen erhalten hätte, aber die Majorität hat er eben nicht zu¬ sammengebracht: auch da muß es zur Stichwahl kommen. Sie wird eine ernste Probe für die Herren Conservativen sein. Diese können in dem ge¬ nannten Wahlkreise siegen, wenn sie die Unterstützung der in demselben eine bemerkenswerthe Minorität bildenden Ultramontanen annehmen, und diese Un¬ terstützung ist ihnen angeboten. Für ihre liberalen Gegner könnte es am Ende erwünscht sein, daß, selbst auf die Gefahr hin, diesen Posten momentan verloren zu sehen, jener Compromiß zu Stande käme — denn damit wäre jene Partei, die bisher immer so emphatisch und hoch und theuer jede Gemein¬ schaft mit und jede Hinneigung zu den Römlingen abgeleugnet und von sich gewiesen hat, so compromittirt, daß sie für die Folge lahm gelegt wäre und vom politischen Schallplatz abtreten müßte. In Nürnberg hat ihr Führer Lut¬ hard die Parole ausgegeben, im Kampf der engeren Wahl für den fortschritt¬ lichen Candidaten gegen den sozialdemokratischen einzutreten. Das ist aner- kennenswerth — aber die Consequenz dieser richtigen Anschauung der Dinge wäre nun auch die Ablehnung jener ultramontanen Unterstützung. Fragen wir nun noch, wie es möglich war, daß eine solche Gefährdung der bisherigen Position der liberalen Parteien, wie sie doch offenbar in dem Erstarken der Sozialdemokratie und der Conservativen vorliegt, eintreten konnte, an wem die Schuld — und eine Schuld muß doch hier vorhanden sein — liegt, so mögen sich Regierung, Volk und Führer des Volks in diese theilen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/320>, abgerufen am 23.07.2024.