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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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zurück; aber gleich den Siebenschläfern von Ephesus fand er dort Alles ver¬
ändert, und keine Seele im Orte kannte ihn oder hatte je von ihm gehört.
Er hatte über die Gesetze, über die Zeit, über das dürftige und harte Leben
eines Galeerensklaven triumphirt, jetzt aber wandte er sich betrübten Herzens
nach Toulon zurück und schied bald darauf aus einer Welt, in die er nicht
mehr gehörte.

Im Jahre 1609 fiel die irische Gräfin von Desmond von einem Apfel¬
baum, von dem sie Früchte pflücken gewollt, brach den Schenkel und starb an
einigen Tagen an der Verletzung -- hundertnndfüufundvierzig Jahre alt! Sie
hatte in ihrer Jugend bei Hofe mit dem Herzoge von Gloucester getanzt, der
später Richard der Dritte genannt wurde. Sie war von heiterem, lebenslustigen
Temperament und blieb so bis in ihr höchstes Alter. Noch nach ihrem
hundertsten Geburtstage sah man sie sich beim Tanze betheiligen. Sie bekam
dreimal neue Zähne. Als ihre Familie dnrch die Rebellion zu Grunde ge¬
richtet worden, unternahm sie, damals schon weit älter als hundert Jahre, die
weite und in jenen Zeiten beschwerliche Reise nach London, um bei Jakob dem
Ersten Hülfe zu suchen.

Gleichfalls eine sehr seltsame Erscheinung war ein polnisches Ehepaar,
von dem uns Thomson erzählt. Margaretha Krasiowna verheirathete sich in
ihrem viernndneunzigsten Jahre zum dritten Male und zwar mit Kaspar Ray-
kolt, der elf Jahr älter als sie gewesen sein soll. Trotzdem gebar sie ihm --
hier wankt und flackert unser Glaube -- bis 1763, wo sie, hundertundacht
Jahre alt, das irdische Daheim mit dem himmlischen vertauschte, noch zwei
Knaben und ein Mädchen. Diese Kuider aber waren -- hier geht uns die
Lampe des Glaubens ganz ans -- greisenhaft wie ihre Eltern: sie hatten
graue Haare, bekamen keine Zähne, zeigten runzelige Gesichter und schlichen
langsam und gebückt einher. Die Sache sieht ganz wie eine Verspottung ge¬
wisser Behauptungen von der unerhörten Productionskraft alter Leute aus,
und wir theilen sie eigentlich nur als malerischen Unsinn mit.

Thomson bemerkt, daß unsere Urgreise meist von kleinem Wuchse sind.
Er sagt: "Hochgewachsene Männer und Frauen sind den Unfällen, die das
Leben bringt, mehr ausgesetzt als kleine, und ihr Organismus ist in der Re¬
gel nicht so eompact gebildet, als derjenige der Letzteren. Zwerge haben nicht
selten die Linie überschritten, welche das Ende des zehnten Decenniums be¬
zeichnet. Unter Andern möge die Engländerin Elsbeth Watson erwähnt wer¬
den, die in dem hohen Alter von 115 Jahren starb. Sie war zwei Fuß nenn
Zoll groß und ziemlich umfangreich, wofern bei einer solchen Pygmäengestalt
von Umfünglichkeit die Rede sein kann." Weit seltener gelangen Riesen über
jene Grenzlinie hinaus, doch weiß uns Thomson zwei Ausnahmen von dieser


zurück; aber gleich den Siebenschläfern von Ephesus fand er dort Alles ver¬
ändert, und keine Seele im Orte kannte ihn oder hatte je von ihm gehört.
Er hatte über die Gesetze, über die Zeit, über das dürftige und harte Leben
eines Galeerensklaven triumphirt, jetzt aber wandte er sich betrübten Herzens
nach Toulon zurück und schied bald darauf aus einer Welt, in die er nicht
mehr gehörte.

Im Jahre 1609 fiel die irische Gräfin von Desmond von einem Apfel¬
baum, von dem sie Früchte pflücken gewollt, brach den Schenkel und starb an
einigen Tagen an der Verletzung — hundertnndfüufundvierzig Jahre alt! Sie
hatte in ihrer Jugend bei Hofe mit dem Herzoge von Gloucester getanzt, der
später Richard der Dritte genannt wurde. Sie war von heiterem, lebenslustigen
Temperament und blieb so bis in ihr höchstes Alter. Noch nach ihrem
hundertsten Geburtstage sah man sie sich beim Tanze betheiligen. Sie bekam
dreimal neue Zähne. Als ihre Familie dnrch die Rebellion zu Grunde ge¬
richtet worden, unternahm sie, damals schon weit älter als hundert Jahre, die
weite und in jenen Zeiten beschwerliche Reise nach London, um bei Jakob dem
Ersten Hülfe zu suchen.

Gleichfalls eine sehr seltsame Erscheinung war ein polnisches Ehepaar,
von dem uns Thomson erzählt. Margaretha Krasiowna verheirathete sich in
ihrem viernndneunzigsten Jahre zum dritten Male und zwar mit Kaspar Ray-
kolt, der elf Jahr älter als sie gewesen sein soll. Trotzdem gebar sie ihm —
hier wankt und flackert unser Glaube — bis 1763, wo sie, hundertundacht
Jahre alt, das irdische Daheim mit dem himmlischen vertauschte, noch zwei
Knaben und ein Mädchen. Diese Kuider aber waren — hier geht uns die
Lampe des Glaubens ganz ans — greisenhaft wie ihre Eltern: sie hatten
graue Haare, bekamen keine Zähne, zeigten runzelige Gesichter und schlichen
langsam und gebückt einher. Die Sache sieht ganz wie eine Verspottung ge¬
wisser Behauptungen von der unerhörten Productionskraft alter Leute aus,
und wir theilen sie eigentlich nur als malerischen Unsinn mit.

Thomson bemerkt, daß unsere Urgreise meist von kleinem Wuchse sind.
Er sagt: „Hochgewachsene Männer und Frauen sind den Unfällen, die das
Leben bringt, mehr ausgesetzt als kleine, und ihr Organismus ist in der Re¬
gel nicht so eompact gebildet, als derjenige der Letzteren. Zwerge haben nicht
selten die Linie überschritten, welche das Ende des zehnten Decenniums be¬
zeichnet. Unter Andern möge die Engländerin Elsbeth Watson erwähnt wer¬
den, die in dem hohen Alter von 115 Jahren starb. Sie war zwei Fuß nenn
Zoll groß und ziemlich umfangreich, wofern bei einer solchen Pygmäengestalt
von Umfünglichkeit die Rede sein kann." Weit seltener gelangen Riesen über
jene Grenzlinie hinaus, doch weiß uns Thomson zwei Ausnahmen von dieser


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[0304] zurück; aber gleich den Siebenschläfern von Ephesus fand er dort Alles ver¬ ändert, und keine Seele im Orte kannte ihn oder hatte je von ihm gehört. Er hatte über die Gesetze, über die Zeit, über das dürftige und harte Leben eines Galeerensklaven triumphirt, jetzt aber wandte er sich betrübten Herzens nach Toulon zurück und schied bald darauf aus einer Welt, in die er nicht mehr gehörte. Im Jahre 1609 fiel die irische Gräfin von Desmond von einem Apfel¬ baum, von dem sie Früchte pflücken gewollt, brach den Schenkel und starb an einigen Tagen an der Verletzung — hundertnndfüufundvierzig Jahre alt! Sie hatte in ihrer Jugend bei Hofe mit dem Herzoge von Gloucester getanzt, der später Richard der Dritte genannt wurde. Sie war von heiterem, lebenslustigen Temperament und blieb so bis in ihr höchstes Alter. Noch nach ihrem hundertsten Geburtstage sah man sie sich beim Tanze betheiligen. Sie bekam dreimal neue Zähne. Als ihre Familie dnrch die Rebellion zu Grunde ge¬ richtet worden, unternahm sie, damals schon weit älter als hundert Jahre, die weite und in jenen Zeiten beschwerliche Reise nach London, um bei Jakob dem Ersten Hülfe zu suchen. Gleichfalls eine sehr seltsame Erscheinung war ein polnisches Ehepaar, von dem uns Thomson erzählt. Margaretha Krasiowna verheirathete sich in ihrem viernndneunzigsten Jahre zum dritten Male und zwar mit Kaspar Ray- kolt, der elf Jahr älter als sie gewesen sein soll. Trotzdem gebar sie ihm — hier wankt und flackert unser Glaube — bis 1763, wo sie, hundertundacht Jahre alt, das irdische Daheim mit dem himmlischen vertauschte, noch zwei Knaben und ein Mädchen. Diese Kuider aber waren — hier geht uns die Lampe des Glaubens ganz ans — greisenhaft wie ihre Eltern: sie hatten graue Haare, bekamen keine Zähne, zeigten runzelige Gesichter und schlichen langsam und gebückt einher. Die Sache sieht ganz wie eine Verspottung ge¬ wisser Behauptungen von der unerhörten Productionskraft alter Leute aus, und wir theilen sie eigentlich nur als malerischen Unsinn mit. Thomson bemerkt, daß unsere Urgreise meist von kleinem Wuchse sind. Er sagt: „Hochgewachsene Männer und Frauen sind den Unfällen, die das Leben bringt, mehr ausgesetzt als kleine, und ihr Organismus ist in der Re¬ gel nicht so eompact gebildet, als derjenige der Letzteren. Zwerge haben nicht selten die Linie überschritten, welche das Ende des zehnten Decenniums be¬ zeichnet. Unter Andern möge die Engländerin Elsbeth Watson erwähnt wer¬ den, die in dem hohen Alter von 115 Jahren starb. Sie war zwei Fuß nenn Zoll groß und ziemlich umfangreich, wofern bei einer solchen Pygmäengestalt von Umfünglichkeit die Rede sein kann." Weit seltener gelangen Riesen über jene Grenzlinie hinaus, doch weiß uns Thomson zwei Ausnahmen von dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/304>, abgerufen am 23.07.2024.