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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Jahre 1757 aber starb in Shropshire ein gewisser Robert Parr, nachdem er
hundertundvieruudzwanzig Mal seinen Geburtstag erlebt. Er sollte der Urenkel
des berühmten "alten Parr" sein, und sein Vater sollte ein Alter von 109,
sein Großvater ein solches von 113 Jahren erreicht haben. Die Gesammt-
summe der Lebensjahre dieser vier Angehörigen der Familie Parr beläuft sich
auf 498, schreibe vierhundertundachtundueunzig, mit andern Worten aus mehr
als den vierten Theil der Zeit, die seit Beginn der christlichen Aera verflossen
ist. Aber noch nicht genug: John Nawell, der 1761 im Alter von 127 Jahren
zu seinen Vätern versammelt wurde, und John Michaelson, der 1763 ebenso
alt starb, waren beide Enkel von Töchtern oder Söhne von Enkelinnen des
"alten Parr."

Ob, oder sagen wir lieber, wie weit, die Erzählungen, nach denen hoch¬
betagten Menschen einzelne oder alle Sinne sich verjüngt haben, schwaches
Gesicht oder stumpf gewordenes Gehör wieder scharf geworden, neue Zähne
oder neue Haare gekommen, ob ihnen andere, z. B. geschlechtliche Fähigkeiten
überhaupt niemals verloren gegangen oder später wieder zu Theil geworden
sind, erscheint uns zweifelhaft. Gewiß dagegen ist, daß nicht selten alte Leute
bei einem sehr schwachen Gedächtniß für unmittelbar hinter ihnen liegende
Ereignisse eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an Dinge besitzen, die sie
in ihrer Kindheit erlebt oder gesehen haben. Hufeland glaubte an jene Ver¬
jüngung. Er sagt: "Bei vielen Beispielen des höchsten Alters bemerkte man,
daß im sechzigsten oder siebzigsten Jahre, wo andere Menschen zu leben auf¬
hören, neue Zähne und neue Haare hervorkamen, und nun gleichsam eine neue
Periode des Lebens anfing, welche noch zwanzig oder dreißig Jahre dauern
konnte -- eine Art von Reproduction seiner selbst, wie wir sie sonst nur bei
unvollkommneren Geschöpfen wahrnehmen. Von der Art ist das merkwürdigste
mir bekannte Beispiel ein Greis, der zu Rechingen im Oberamt Bamberg in
der Pfalz lebte und 1791 in seinem hundertundzwanzigsten Jahre starb. Diesem
wuchsen im Jahre 1787, nachdem er lange schon keine Zähne mehr gehabt
hatte, auf einmal acht neue. Nach sechs Monaten fielen sie aus, der Abgang
wurde aber durch neue Stockzähne unten und oben wieder ersetzt, und so
arbeitete die Natur vier Jahre lang unermüdet und noch bis vier Wochen
vor seinem Ende fort. Wenn er sich der neuen Zähne einige Zeit recht be¬
quem zum Zermalmen der Speisen bedient hatte, nahmen sie bald eher, bald
später wieder Abschied, sogleich aber schoben sich in diese oder andere Lücken
neue nach. Alle diese Zähne bekam und verlor er ohne Schmerzen, und ihre
Zahl belief sich zusammen wenigstens auf ein halbes Hundert."

"Ein Baron Baravieino de Capellis, der 1770 zu Meran in Tirol in
einem Alter von 104 Jahren starb, hatte vier Frauen nach einander genommen,


Jahre 1757 aber starb in Shropshire ein gewisser Robert Parr, nachdem er
hundertundvieruudzwanzig Mal seinen Geburtstag erlebt. Er sollte der Urenkel
des berühmten „alten Parr" sein, und sein Vater sollte ein Alter von 109,
sein Großvater ein solches von 113 Jahren erreicht haben. Die Gesammt-
summe der Lebensjahre dieser vier Angehörigen der Familie Parr beläuft sich
auf 498, schreibe vierhundertundachtundueunzig, mit andern Worten aus mehr
als den vierten Theil der Zeit, die seit Beginn der christlichen Aera verflossen
ist. Aber noch nicht genug: John Nawell, der 1761 im Alter von 127 Jahren
zu seinen Vätern versammelt wurde, und John Michaelson, der 1763 ebenso
alt starb, waren beide Enkel von Töchtern oder Söhne von Enkelinnen des
„alten Parr."

Ob, oder sagen wir lieber, wie weit, die Erzählungen, nach denen hoch¬
betagten Menschen einzelne oder alle Sinne sich verjüngt haben, schwaches
Gesicht oder stumpf gewordenes Gehör wieder scharf geworden, neue Zähne
oder neue Haare gekommen, ob ihnen andere, z. B. geschlechtliche Fähigkeiten
überhaupt niemals verloren gegangen oder später wieder zu Theil geworden
sind, erscheint uns zweifelhaft. Gewiß dagegen ist, daß nicht selten alte Leute
bei einem sehr schwachen Gedächtniß für unmittelbar hinter ihnen liegende
Ereignisse eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an Dinge besitzen, die sie
in ihrer Kindheit erlebt oder gesehen haben. Hufeland glaubte an jene Ver¬
jüngung. Er sagt: „Bei vielen Beispielen des höchsten Alters bemerkte man,
daß im sechzigsten oder siebzigsten Jahre, wo andere Menschen zu leben auf¬
hören, neue Zähne und neue Haare hervorkamen, und nun gleichsam eine neue
Periode des Lebens anfing, welche noch zwanzig oder dreißig Jahre dauern
konnte — eine Art von Reproduction seiner selbst, wie wir sie sonst nur bei
unvollkommneren Geschöpfen wahrnehmen. Von der Art ist das merkwürdigste
mir bekannte Beispiel ein Greis, der zu Rechingen im Oberamt Bamberg in
der Pfalz lebte und 1791 in seinem hundertundzwanzigsten Jahre starb. Diesem
wuchsen im Jahre 1787, nachdem er lange schon keine Zähne mehr gehabt
hatte, auf einmal acht neue. Nach sechs Monaten fielen sie aus, der Abgang
wurde aber durch neue Stockzähne unten und oben wieder ersetzt, und so
arbeitete die Natur vier Jahre lang unermüdet und noch bis vier Wochen
vor seinem Ende fort. Wenn er sich der neuen Zähne einige Zeit recht be¬
quem zum Zermalmen der Speisen bedient hatte, nahmen sie bald eher, bald
später wieder Abschied, sogleich aber schoben sich in diese oder andere Lücken
neue nach. Alle diese Zähne bekam und verlor er ohne Schmerzen, und ihre
Zahl belief sich zusammen wenigstens auf ein halbes Hundert."

„Ein Baron Baravieino de Capellis, der 1770 zu Meran in Tirol in
einem Alter von 104 Jahren starb, hatte vier Frauen nach einander genommen,


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[0301] Jahre 1757 aber starb in Shropshire ein gewisser Robert Parr, nachdem er hundertundvieruudzwanzig Mal seinen Geburtstag erlebt. Er sollte der Urenkel des berühmten „alten Parr" sein, und sein Vater sollte ein Alter von 109, sein Großvater ein solches von 113 Jahren erreicht haben. Die Gesammt- summe der Lebensjahre dieser vier Angehörigen der Familie Parr beläuft sich auf 498, schreibe vierhundertundachtundueunzig, mit andern Worten aus mehr als den vierten Theil der Zeit, die seit Beginn der christlichen Aera verflossen ist. Aber noch nicht genug: John Nawell, der 1761 im Alter von 127 Jahren zu seinen Vätern versammelt wurde, und John Michaelson, der 1763 ebenso alt starb, waren beide Enkel von Töchtern oder Söhne von Enkelinnen des „alten Parr." Ob, oder sagen wir lieber, wie weit, die Erzählungen, nach denen hoch¬ betagten Menschen einzelne oder alle Sinne sich verjüngt haben, schwaches Gesicht oder stumpf gewordenes Gehör wieder scharf geworden, neue Zähne oder neue Haare gekommen, ob ihnen andere, z. B. geschlechtliche Fähigkeiten überhaupt niemals verloren gegangen oder später wieder zu Theil geworden sind, erscheint uns zweifelhaft. Gewiß dagegen ist, daß nicht selten alte Leute bei einem sehr schwachen Gedächtniß für unmittelbar hinter ihnen liegende Ereignisse eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an Dinge besitzen, die sie in ihrer Kindheit erlebt oder gesehen haben. Hufeland glaubte an jene Ver¬ jüngung. Er sagt: „Bei vielen Beispielen des höchsten Alters bemerkte man, daß im sechzigsten oder siebzigsten Jahre, wo andere Menschen zu leben auf¬ hören, neue Zähne und neue Haare hervorkamen, und nun gleichsam eine neue Periode des Lebens anfing, welche noch zwanzig oder dreißig Jahre dauern konnte — eine Art von Reproduction seiner selbst, wie wir sie sonst nur bei unvollkommneren Geschöpfen wahrnehmen. Von der Art ist das merkwürdigste mir bekannte Beispiel ein Greis, der zu Rechingen im Oberamt Bamberg in der Pfalz lebte und 1791 in seinem hundertundzwanzigsten Jahre starb. Diesem wuchsen im Jahre 1787, nachdem er lange schon keine Zähne mehr gehabt hatte, auf einmal acht neue. Nach sechs Monaten fielen sie aus, der Abgang wurde aber durch neue Stockzähne unten und oben wieder ersetzt, und so arbeitete die Natur vier Jahre lang unermüdet und noch bis vier Wochen vor seinem Ende fort. Wenn er sich der neuen Zähne einige Zeit recht be¬ quem zum Zermalmen der Speisen bedient hatte, nahmen sie bald eher, bald später wieder Abschied, sogleich aber schoben sich in diese oder andere Lücken neue nach. Alle diese Zähne bekam und verlor er ohne Schmerzen, und ihre Zahl belief sich zusammen wenigstens auf ein halbes Hundert." „Ein Baron Baravieino de Capellis, der 1770 zu Meran in Tirol in einem Alter von 104 Jahren starb, hatte vier Frauen nach einander genommen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/301>, abgerufen am 23.07.2024.