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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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rechnen wird, als der Ungebildete. In letzterer Hinsicht aber ist es, wenn sich
über hundert Jahre alte Leute vorwiegend in obscurer Dörfern finden, wohl
weniger mit der dort herrschenden guten Luft und einfacher, ruhiger, gleich¬
mäßiger Lebensweise als damit zu erklären, daß außer dem ipse üixit, des
alten Herrn oder der alten Dame selbst meist kein anderer Beweis für das
Mirakel vorhanden ist. Sobald wir uns den Städten nähern, wo die Wissen¬
schaft die Sache beleuchten kann, hören die Wunder in der Regel anf. Häufig
kommt zu der Gedächtnißschwäche des betreffenden Urgroßvaters auch eine
Dosis Eitelkeit, die ihm sich ein Dutzend Jahre mehr andichten hilft. Endlich ge¬
schieht es vielleicht in Ortschaften, wo viele Leute desselben Geschlechts und
Namens beisammen wohnen, mitunter auch, daß ein Achzigjähriger in seiner
Unklarheit über die Vergangenheit seinem noch lebenden hundertjährigen Vater
auch noch die Jahre des Vaters, Oheims oder Bruders desselben miegt.
Treffen wir in England außerordentlich viele uralte Männer und Frauen an,
so erklärt fich das wohl vor Allem mit der durchschnittlich außerordentlich ge¬
ringen Bildung der Landbevölkerung, die erst vor Kurzem überall Schulen
bekommen hat. Begegnen wir jenen viel reichlicher in den beiden letztverflossenen
Jahrhunderten als heutzutage, so ist der Grund hiervon derselbe: man war
früher noch unwissender und noch weniger aufgeklärt und infolge dessen noch
mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt und noch leichtgläubiger; endlich aber besaß
man keine Kirchenbücher, Civilstandsregister und Lebensversicherungstabellen.
Die Behauptung, die alte Race sei kräftiger und zäher gewesen, ist einfach
nicht währ, im Gegentheil, die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen und
damit die Möglichkeit für den Einzelnen, weit über dieselbe hinauszukommen,
hat in unserm Jahrhundert in allen civilisirten Ländern nicht unerheblich zu¬
genommen.

Als begründet ist wohl die Behauptung anzusehen, daß im Durchschnitt
mehr Frauen sehr alt werden als Männer, und dasselbe scheint von derjenigen
zu gelten, daß verheirathete Frauen im Verhältniß von zwei zu eins ein höheres
Alter erreichen als unverheirathete. Die ältesten Menschen aber, von denen
wir vernahmen, gehörten dem männlichen Geschlechte an, und wenn mehr Frauen
als Männer 110 Jahre alt geworden sind, so finden sich über dieses Alter
hinaus mehr Männer als Frauen. Als einziges Beispiel, wo eine alte Jungfer
zu sehr hohen Jahren gelangte, nennen wir die französische Putzmacherin
Marie Mallet, die, als sie in: hundertuudfnnfzehuten Lebensjahr gestorben war,
von fünfundvierzig Greisinnen, welche als junge Mädchen bei ihr in der Lehre
gewesen waren, zu Grabe begleitet wurde. Ein merkwürdiges Bild langer
Lebensdauer nach zahlreichen Geburten war Mary Prescott in der englischen
Grafschaft Sussex> die 1768 im hundertundfünften Jahre ihres Alters mit


rechnen wird, als der Ungebildete. In letzterer Hinsicht aber ist es, wenn sich
über hundert Jahre alte Leute vorwiegend in obscurer Dörfern finden, wohl
weniger mit der dort herrschenden guten Luft und einfacher, ruhiger, gleich¬
mäßiger Lebensweise als damit zu erklären, daß außer dem ipse üixit, des
alten Herrn oder der alten Dame selbst meist kein anderer Beweis für das
Mirakel vorhanden ist. Sobald wir uns den Städten nähern, wo die Wissen¬
schaft die Sache beleuchten kann, hören die Wunder in der Regel anf. Häufig
kommt zu der Gedächtnißschwäche des betreffenden Urgroßvaters auch eine
Dosis Eitelkeit, die ihm sich ein Dutzend Jahre mehr andichten hilft. Endlich ge¬
schieht es vielleicht in Ortschaften, wo viele Leute desselben Geschlechts und
Namens beisammen wohnen, mitunter auch, daß ein Achzigjähriger in seiner
Unklarheit über die Vergangenheit seinem noch lebenden hundertjährigen Vater
auch noch die Jahre des Vaters, Oheims oder Bruders desselben miegt.
Treffen wir in England außerordentlich viele uralte Männer und Frauen an,
so erklärt fich das wohl vor Allem mit der durchschnittlich außerordentlich ge¬
ringen Bildung der Landbevölkerung, die erst vor Kurzem überall Schulen
bekommen hat. Begegnen wir jenen viel reichlicher in den beiden letztverflossenen
Jahrhunderten als heutzutage, so ist der Grund hiervon derselbe: man war
früher noch unwissender und noch weniger aufgeklärt und infolge dessen noch
mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt und noch leichtgläubiger; endlich aber besaß
man keine Kirchenbücher, Civilstandsregister und Lebensversicherungstabellen.
Die Behauptung, die alte Race sei kräftiger und zäher gewesen, ist einfach
nicht währ, im Gegentheil, die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen und
damit die Möglichkeit für den Einzelnen, weit über dieselbe hinauszukommen,
hat in unserm Jahrhundert in allen civilisirten Ländern nicht unerheblich zu¬
genommen.

Als begründet ist wohl die Behauptung anzusehen, daß im Durchschnitt
mehr Frauen sehr alt werden als Männer, und dasselbe scheint von derjenigen
zu gelten, daß verheirathete Frauen im Verhältniß von zwei zu eins ein höheres
Alter erreichen als unverheirathete. Die ältesten Menschen aber, von denen
wir vernahmen, gehörten dem männlichen Geschlechte an, und wenn mehr Frauen
als Männer 110 Jahre alt geworden sind, so finden sich über dieses Alter
hinaus mehr Männer als Frauen. Als einziges Beispiel, wo eine alte Jungfer
zu sehr hohen Jahren gelangte, nennen wir die französische Putzmacherin
Marie Mallet, die, als sie in: hundertuudfnnfzehuten Lebensjahr gestorben war,
von fünfundvierzig Greisinnen, welche als junge Mädchen bei ihr in der Lehre
gewesen waren, zu Grabe begleitet wurde. Ein merkwürdiges Bild langer
Lebensdauer nach zahlreichen Geburten war Mary Prescott in der englischen
Grafschaft Sussex> die 1768 im hundertundfünften Jahre ihres Alters mit


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[0299] rechnen wird, als der Ungebildete. In letzterer Hinsicht aber ist es, wenn sich über hundert Jahre alte Leute vorwiegend in obscurer Dörfern finden, wohl weniger mit der dort herrschenden guten Luft und einfacher, ruhiger, gleich¬ mäßiger Lebensweise als damit zu erklären, daß außer dem ipse üixit, des alten Herrn oder der alten Dame selbst meist kein anderer Beweis für das Mirakel vorhanden ist. Sobald wir uns den Städten nähern, wo die Wissen¬ schaft die Sache beleuchten kann, hören die Wunder in der Regel anf. Häufig kommt zu der Gedächtnißschwäche des betreffenden Urgroßvaters auch eine Dosis Eitelkeit, die ihm sich ein Dutzend Jahre mehr andichten hilft. Endlich ge¬ schieht es vielleicht in Ortschaften, wo viele Leute desselben Geschlechts und Namens beisammen wohnen, mitunter auch, daß ein Achzigjähriger in seiner Unklarheit über die Vergangenheit seinem noch lebenden hundertjährigen Vater auch noch die Jahre des Vaters, Oheims oder Bruders desselben miegt. Treffen wir in England außerordentlich viele uralte Männer und Frauen an, so erklärt fich das wohl vor Allem mit der durchschnittlich außerordentlich ge¬ ringen Bildung der Landbevölkerung, die erst vor Kurzem überall Schulen bekommen hat. Begegnen wir jenen viel reichlicher in den beiden letztverflossenen Jahrhunderten als heutzutage, so ist der Grund hiervon derselbe: man war früher noch unwissender und noch weniger aufgeklärt und infolge dessen noch mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt und noch leichtgläubiger; endlich aber besaß man keine Kirchenbücher, Civilstandsregister und Lebensversicherungstabellen. Die Behauptung, die alte Race sei kräftiger und zäher gewesen, ist einfach nicht währ, im Gegentheil, die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen und damit die Möglichkeit für den Einzelnen, weit über dieselbe hinauszukommen, hat in unserm Jahrhundert in allen civilisirten Ländern nicht unerheblich zu¬ genommen. Als begründet ist wohl die Behauptung anzusehen, daß im Durchschnitt mehr Frauen sehr alt werden als Männer, und dasselbe scheint von derjenigen zu gelten, daß verheirathete Frauen im Verhältniß von zwei zu eins ein höheres Alter erreichen als unverheirathete. Die ältesten Menschen aber, von denen wir vernahmen, gehörten dem männlichen Geschlechte an, und wenn mehr Frauen als Männer 110 Jahre alt geworden sind, so finden sich über dieses Alter hinaus mehr Männer als Frauen. Als einziges Beispiel, wo eine alte Jungfer zu sehr hohen Jahren gelangte, nennen wir die französische Putzmacherin Marie Mallet, die, als sie in: hundertuudfnnfzehuten Lebensjahr gestorben war, von fünfundvierzig Greisinnen, welche als junge Mädchen bei ihr in der Lehre gewesen waren, zu Grabe begleitet wurde. Ein merkwürdiges Bild langer Lebensdauer nach zahlreichen Geburten war Mary Prescott in der englischen Grafschaft Sussex> die 1768 im hundertundfünften Jahre ihres Alters mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/299>, abgerufen am 23.07.2024.