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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Wir haben oben gesehen, daß eine sorgfältige Auswahl der Speisen,
Mäßigkeit im Genuß derselben sowie in Betreff der geistigen Getränke, die
Gewohnheit, sich fleißig Bewegung in freier Luft zu machen und die Be¬
herrschung seiner Leidenschaften der Erfüllung des Wunsches nach langem
Leben besonders förderlich sind. Thomson zeigt uns, daß auch diese Regel
mehrere auffallende Ausnahmen zugelassen hat. Mau wird in diesen Fällen
annehmen müssen, daß die betreffenden Sünder gegen jene Gebote zu einem
hohen Alter prädestinirt Ware", daß sie trotz alles Austürmeus dagegen und
trotz aller Vernachlässigung der allgemein anerkannten Vorsichtsmaßregeln zu
hohen Jahren gelangten. Sie fanden, wo sie nicht suchten, sie ernteten, wo sie
nicht gesäet hatten. Wenn schon ein Urgreis von hundert Jahren gewöhnlich
eine unschöne Curivsitüt und oft eine abstoßende Moustruvsität ist, die über
ihre Zeit hinaus jüngeren Leuten Platz zu machen zögert, so wird die Sache
doppelt widerwärtig, wenn ein solcher alter Zauberer im Leben hängen bleibt,
obwohl er den bewährtesten Gesetzen für die Gesundheitspflege täglich Hohn
spricht. Und solche thörichte Langlebige hat es gegeben. Thomson erzählt:
"John Weeks heirathete in seinem hundertuudsechsten Jahre seine zehnte Fran --
ein Mädchen von sechzehn Sommern. Er hatte einen Appetit, der Gefräßigkeit
zu nennen war und Alles durcheinander hinunterschlang. Noch einige Stunden
vor seinem Tode, der erst acht Jahre nach seiner letzten Heirath erfolgte, aß
er drei Pfund Schweinefleisch und zwei Pfund Brot, wozu er eine Pinke Wem
trank." Ist in diesem Falle die Möglichkeit gegeben, anzunehmen, daß hier
das obenerwähnte Recept zur Lebensverlängerung sich bewährt hat, welches
dem König David die junge Abisag von Sunem verordnete, nud welches später
Bverhcwe anwendete, so war bei dem zweiten Beispiele Thomsons davon nicht
die Rede. "Ein geistlicher Herr, der Vicar Davies in Staunton am Wye,
wurde 105 Jahre alt, obwohl er sich in den letzten dreißig Jahren seines
Lebens keine andere Bewegung machte, als daß er bisweilen, einen Fuß vor
dem andern herschiebend, von Zimmer zu Zimmer rutschte. Und doch aß er
wie ein Drescher und überdies die unverdaulichsten Dinge-Heiße Semmeln,
dick mit Butter bestrichen, zum Frühstück, zu Mittag eine Meuge verschiedeuer
Gerichte, zum Abendbrot warmen Braten, wozu er des Morgens tüchtig Thee
oder Kaffee und des Abends tapfer Portwein trank.

Auffallen muß, daß wir vorzüglich uuter Leuten niedern Standes ein
solches Patriarcheualter finden, und daß dieselben größtenteils auf dem Lande
wohnten. In ersterer Beziehung sollte mau denken, daß der Besitz von Reich¬
thum und Bildung die Mittel an die Hemd gebe, sich besser gegen die Dinge,
welche die Gesundheit bedrohen und das Leben abkürzen, zu schützen als Dürftigkeit
und Unwissenheit, und daß sodann der Gebildete sich nicht so leicht in der Zeit ver-


Wir haben oben gesehen, daß eine sorgfältige Auswahl der Speisen,
Mäßigkeit im Genuß derselben sowie in Betreff der geistigen Getränke, die
Gewohnheit, sich fleißig Bewegung in freier Luft zu machen und die Be¬
herrschung seiner Leidenschaften der Erfüllung des Wunsches nach langem
Leben besonders förderlich sind. Thomson zeigt uns, daß auch diese Regel
mehrere auffallende Ausnahmen zugelassen hat. Mau wird in diesen Fällen
annehmen müssen, daß die betreffenden Sünder gegen jene Gebote zu einem
hohen Alter prädestinirt Ware», daß sie trotz alles Austürmeus dagegen und
trotz aller Vernachlässigung der allgemein anerkannten Vorsichtsmaßregeln zu
hohen Jahren gelangten. Sie fanden, wo sie nicht suchten, sie ernteten, wo sie
nicht gesäet hatten. Wenn schon ein Urgreis von hundert Jahren gewöhnlich
eine unschöne Curivsitüt und oft eine abstoßende Moustruvsität ist, die über
ihre Zeit hinaus jüngeren Leuten Platz zu machen zögert, so wird die Sache
doppelt widerwärtig, wenn ein solcher alter Zauberer im Leben hängen bleibt,
obwohl er den bewährtesten Gesetzen für die Gesundheitspflege täglich Hohn
spricht. Und solche thörichte Langlebige hat es gegeben. Thomson erzählt:
„John Weeks heirathete in seinem hundertuudsechsten Jahre seine zehnte Fran —
ein Mädchen von sechzehn Sommern. Er hatte einen Appetit, der Gefräßigkeit
zu nennen war und Alles durcheinander hinunterschlang. Noch einige Stunden
vor seinem Tode, der erst acht Jahre nach seiner letzten Heirath erfolgte, aß
er drei Pfund Schweinefleisch und zwei Pfund Brot, wozu er eine Pinke Wem
trank." Ist in diesem Falle die Möglichkeit gegeben, anzunehmen, daß hier
das obenerwähnte Recept zur Lebensverlängerung sich bewährt hat, welches
dem König David die junge Abisag von Sunem verordnete, nud welches später
Bverhcwe anwendete, so war bei dem zweiten Beispiele Thomsons davon nicht
die Rede. „Ein geistlicher Herr, der Vicar Davies in Staunton am Wye,
wurde 105 Jahre alt, obwohl er sich in den letzten dreißig Jahren seines
Lebens keine andere Bewegung machte, als daß er bisweilen, einen Fuß vor
dem andern herschiebend, von Zimmer zu Zimmer rutschte. Und doch aß er
wie ein Drescher und überdies die unverdaulichsten Dinge-Heiße Semmeln,
dick mit Butter bestrichen, zum Frühstück, zu Mittag eine Meuge verschiedeuer
Gerichte, zum Abendbrot warmen Braten, wozu er des Morgens tüchtig Thee
oder Kaffee und des Abends tapfer Portwein trank.

Auffallen muß, daß wir vorzüglich uuter Leuten niedern Standes ein
solches Patriarcheualter finden, und daß dieselben größtenteils auf dem Lande
wohnten. In ersterer Beziehung sollte mau denken, daß der Besitz von Reich¬
thum und Bildung die Mittel an die Hemd gebe, sich besser gegen die Dinge,
welche die Gesundheit bedrohen und das Leben abkürzen, zu schützen als Dürftigkeit
und Unwissenheit, und daß sodann der Gebildete sich nicht so leicht in der Zeit ver-


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[0298] Wir haben oben gesehen, daß eine sorgfältige Auswahl der Speisen, Mäßigkeit im Genuß derselben sowie in Betreff der geistigen Getränke, die Gewohnheit, sich fleißig Bewegung in freier Luft zu machen und die Be¬ herrschung seiner Leidenschaften der Erfüllung des Wunsches nach langem Leben besonders förderlich sind. Thomson zeigt uns, daß auch diese Regel mehrere auffallende Ausnahmen zugelassen hat. Mau wird in diesen Fällen annehmen müssen, daß die betreffenden Sünder gegen jene Gebote zu einem hohen Alter prädestinirt Ware», daß sie trotz alles Austürmeus dagegen und trotz aller Vernachlässigung der allgemein anerkannten Vorsichtsmaßregeln zu hohen Jahren gelangten. Sie fanden, wo sie nicht suchten, sie ernteten, wo sie nicht gesäet hatten. Wenn schon ein Urgreis von hundert Jahren gewöhnlich eine unschöne Curivsitüt und oft eine abstoßende Moustruvsität ist, die über ihre Zeit hinaus jüngeren Leuten Platz zu machen zögert, so wird die Sache doppelt widerwärtig, wenn ein solcher alter Zauberer im Leben hängen bleibt, obwohl er den bewährtesten Gesetzen für die Gesundheitspflege täglich Hohn spricht. Und solche thörichte Langlebige hat es gegeben. Thomson erzählt: „John Weeks heirathete in seinem hundertuudsechsten Jahre seine zehnte Fran — ein Mädchen von sechzehn Sommern. Er hatte einen Appetit, der Gefräßigkeit zu nennen war und Alles durcheinander hinunterschlang. Noch einige Stunden vor seinem Tode, der erst acht Jahre nach seiner letzten Heirath erfolgte, aß er drei Pfund Schweinefleisch und zwei Pfund Brot, wozu er eine Pinke Wem trank." Ist in diesem Falle die Möglichkeit gegeben, anzunehmen, daß hier das obenerwähnte Recept zur Lebensverlängerung sich bewährt hat, welches dem König David die junge Abisag von Sunem verordnete, nud welches später Bverhcwe anwendete, so war bei dem zweiten Beispiele Thomsons davon nicht die Rede. „Ein geistlicher Herr, der Vicar Davies in Staunton am Wye, wurde 105 Jahre alt, obwohl er sich in den letzten dreißig Jahren seines Lebens keine andere Bewegung machte, als daß er bisweilen, einen Fuß vor dem andern herschiebend, von Zimmer zu Zimmer rutschte. Und doch aß er wie ein Drescher und überdies die unverdaulichsten Dinge-Heiße Semmeln, dick mit Butter bestrichen, zum Frühstück, zu Mittag eine Meuge verschiedeuer Gerichte, zum Abendbrot warmen Braten, wozu er des Morgens tüchtig Thee oder Kaffee und des Abends tapfer Portwein trank. Auffallen muß, daß wir vorzüglich uuter Leuten niedern Standes ein solches Patriarcheualter finden, und daß dieselben größtenteils auf dem Lande wohnten. In ersterer Beziehung sollte mau denken, daß der Besitz von Reich¬ thum und Bildung die Mittel an die Hemd gebe, sich besser gegen die Dinge, welche die Gesundheit bedrohen und das Leben abkürzen, zu schützen als Dürftigkeit und Unwissenheit, und daß sodann der Gebildete sich nicht so leicht in der Zeit ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/298>, abgerufen am 23.07.2024.