Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

langes Leben als ein hohes Gut aufgefaßt; und die griechischen Stimmen,
welche einen frühen Tod als ein Glück priesen, die himmelssüchtigen Pietisten,
der Buddhismus Schakjamunis und seine traurigen Nachtreter in der Gegen¬
wart sprachen eben nicht ans gesunder Empfindung, sondern aus krankhafter
Empfindsamkeit heraus..

Eine große Anzahl von Sagen und Mythen, Lehren und Vorschriften des
Alterthums bezeugt die Wahrheit unsrer Behauptung. Nach der Genesis war
das erste Menschenpaar bestimmt, unsterblich zu sein, und zu diesem Zwecke
der Baum des Lebeus in den Garten Eden gepflanzt, und das vierte Gebot
schließt mit der Verheißung: "auf daß du lange lebest auf Erden." Alle vou
Gott Begünstigten bringen es in den Schriften des Alten Testaments zu hohen
Jahren. Die Erzväter von Adam bis auf Nocch erreichen fast ohne Ausnahme
ein zehnfach höheres Alter, als der 90. Psalm für den Menschen annimmt.
Eine rabbinische Tradition erzählt von einer Stadt der Unsterblichkeit, Namens
Lus, die in einem Thale des Hethiterlandes liegt, und deren Bewohner, wenn
sie zu alt geworden sind und sterben wollen, sich vor das Thor hinaustragen
lassen müssen, da sie innerhalb der Mauern den Tod nicht finden können. In der
"Jm^M an, Noinie" (aus dem, 13. Jahrhundert) wird Aehnliches von einer
"weit draußen im Meere liegenden Insel" berichtet, "deren Bewohner, wenn
sie alt und gebrechlich geworden sind, so daß ihnen das Leben zur Last wird,
sich, weil sie daheim nicht sterben können, anf das Eiland Eile (Thule) bringen
lassen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten
Länge hat." Aus der griechischen Sagenwelt erwähnen wir nur Epimenides,
den Vertrauten der Götter, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben und
157 Jahre alt geworden sein sollte. Nach Gervasius von Tilbury hatte Alex¬
ander der Große dem Aristoteles von "Bäumen der Sonne und des Mondes"
in Indien berichtet, welche Aepfel trugen, deren Genuß den sie bewachenden
Priestern ein Leben von vierhundert Jahren verlieh -- eine Fabel, die viel¬
leicht Anlaß zu der scharfsinnigen Vermuthung gegeben hat, mit welcher später
ein bibelgläubiger englischer Gelehrter sich das hohe Alter Methusalcchs und
seiner Väter und Nachkommen damit erklärte, daß ihnen erlaubt gewesen sei,
bisweilen vom Baume des Lebens im Paradiese zu essen.

Verlassen wir das Gebiet der Mythe und begeben wir uns in die un¬
mittelbare Gegenwart, so hat Cornewall Lewis mit Entschiedenheit geleugnet,
daß jemals ein Mensch wirklich hundert Jahre alt geworden sei, während
Hufeland in der bekannten Schrift: "Die Kunst, das menschliche Leben zu
verlängern" der Meinung ist, der Mensch könne unter günstigen Umständen
ein Alter von fünfzehn Decennien erreichen. Wenn es uns schwer fällt, an diese
Möglichkeit zu glauben, so müssen wir auf Grund von Zeitungsberichten aus


langes Leben als ein hohes Gut aufgefaßt; und die griechischen Stimmen,
welche einen frühen Tod als ein Glück priesen, die himmelssüchtigen Pietisten,
der Buddhismus Schakjamunis und seine traurigen Nachtreter in der Gegen¬
wart sprachen eben nicht ans gesunder Empfindung, sondern aus krankhafter
Empfindsamkeit heraus..

Eine große Anzahl von Sagen und Mythen, Lehren und Vorschriften des
Alterthums bezeugt die Wahrheit unsrer Behauptung. Nach der Genesis war
das erste Menschenpaar bestimmt, unsterblich zu sein, und zu diesem Zwecke
der Baum des Lebeus in den Garten Eden gepflanzt, und das vierte Gebot
schließt mit der Verheißung: „auf daß du lange lebest auf Erden." Alle vou
Gott Begünstigten bringen es in den Schriften des Alten Testaments zu hohen
Jahren. Die Erzväter von Adam bis auf Nocch erreichen fast ohne Ausnahme
ein zehnfach höheres Alter, als der 90. Psalm für den Menschen annimmt.
Eine rabbinische Tradition erzählt von einer Stadt der Unsterblichkeit, Namens
Lus, die in einem Thale des Hethiterlandes liegt, und deren Bewohner, wenn
sie zu alt geworden sind und sterben wollen, sich vor das Thor hinaustragen
lassen müssen, da sie innerhalb der Mauern den Tod nicht finden können. In der
„Jm^M an, Noinie" (aus dem, 13. Jahrhundert) wird Aehnliches von einer
„weit draußen im Meere liegenden Insel" berichtet, „deren Bewohner, wenn
sie alt und gebrechlich geworden sind, so daß ihnen das Leben zur Last wird,
sich, weil sie daheim nicht sterben können, anf das Eiland Eile (Thule) bringen
lassen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten
Länge hat." Aus der griechischen Sagenwelt erwähnen wir nur Epimenides,
den Vertrauten der Götter, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben und
157 Jahre alt geworden sein sollte. Nach Gervasius von Tilbury hatte Alex¬
ander der Große dem Aristoteles von „Bäumen der Sonne und des Mondes"
in Indien berichtet, welche Aepfel trugen, deren Genuß den sie bewachenden
Priestern ein Leben von vierhundert Jahren verlieh — eine Fabel, die viel¬
leicht Anlaß zu der scharfsinnigen Vermuthung gegeben hat, mit welcher später
ein bibelgläubiger englischer Gelehrter sich das hohe Alter Methusalcchs und
seiner Väter und Nachkommen damit erklärte, daß ihnen erlaubt gewesen sei,
bisweilen vom Baume des Lebens im Paradiese zu essen.

Verlassen wir das Gebiet der Mythe und begeben wir uns in die un¬
mittelbare Gegenwart, so hat Cornewall Lewis mit Entschiedenheit geleugnet,
daß jemals ein Mensch wirklich hundert Jahre alt geworden sei, während
Hufeland in der bekannten Schrift: „Die Kunst, das menschliche Leben zu
verlängern" der Meinung ist, der Mensch könne unter günstigen Umständen
ein Alter von fünfzehn Decennien erreichen. Wenn es uns schwer fällt, an diese
Möglichkeit zu glauben, so müssen wir auf Grund von Zeitungsberichten aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137463"/>
          <p xml:id="ID_948" prev="#ID_947"> langes Leben als ein hohes Gut aufgefaßt; und die griechischen Stimmen,<lb/>
welche einen frühen Tod als ein Glück priesen, die himmelssüchtigen Pietisten,<lb/>
der Buddhismus Schakjamunis und seine traurigen Nachtreter in der Gegen¬<lb/>
wart sprachen eben nicht ans gesunder Empfindung, sondern aus krankhafter<lb/>
Empfindsamkeit heraus..</p><lb/>
          <p xml:id="ID_949"> Eine große Anzahl von Sagen und Mythen, Lehren und Vorschriften des<lb/>
Alterthums bezeugt die Wahrheit unsrer Behauptung. Nach der Genesis war<lb/>
das erste Menschenpaar bestimmt, unsterblich zu sein, und zu diesem Zwecke<lb/>
der Baum des Lebeus in den Garten Eden gepflanzt, und das vierte Gebot<lb/>
schließt mit der Verheißung: &#x201E;auf daß du lange lebest auf Erden." Alle vou<lb/>
Gott Begünstigten bringen es in den Schriften des Alten Testaments zu hohen<lb/>
Jahren. Die Erzväter von Adam bis auf Nocch erreichen fast ohne Ausnahme<lb/>
ein zehnfach höheres Alter, als der 90. Psalm für den Menschen annimmt.<lb/>
Eine rabbinische Tradition erzählt von einer Stadt der Unsterblichkeit, Namens<lb/>
Lus, die in einem Thale des Hethiterlandes liegt, und deren Bewohner, wenn<lb/>
sie zu alt geworden sind und sterben wollen, sich vor das Thor hinaustragen<lb/>
lassen müssen, da sie innerhalb der Mauern den Tod nicht finden können. In der<lb/>
&#x201E;Jm^M an, Noinie" (aus dem, 13. Jahrhundert) wird Aehnliches von einer<lb/>
&#x201E;weit draußen im Meere liegenden Insel" berichtet, &#x201E;deren Bewohner, wenn<lb/>
sie alt und gebrechlich geworden sind, so daß ihnen das Leben zur Last wird,<lb/>
sich, weil sie daheim nicht sterben können, anf das Eiland Eile (Thule) bringen<lb/>
lassen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten<lb/>
Länge hat." Aus der griechischen Sagenwelt erwähnen wir nur Epimenides,<lb/>
den Vertrauten der Götter, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben und<lb/>
157 Jahre alt geworden sein sollte. Nach Gervasius von Tilbury hatte Alex¬<lb/>
ander der Große dem Aristoteles von &#x201E;Bäumen der Sonne und des Mondes"<lb/>
in Indien berichtet, welche Aepfel trugen, deren Genuß den sie bewachenden<lb/>
Priestern ein Leben von vierhundert Jahren verlieh &#x2014; eine Fabel, die viel¬<lb/>
leicht Anlaß zu der scharfsinnigen Vermuthung gegeben hat, mit welcher später<lb/>
ein bibelgläubiger englischer Gelehrter sich das hohe Alter Methusalcchs und<lb/>
seiner Väter und Nachkommen damit erklärte, daß ihnen erlaubt gewesen sei,<lb/>
bisweilen vom Baume des Lebens im Paradiese zu essen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_950" next="#ID_951"> Verlassen wir das Gebiet der Mythe und begeben wir uns in die un¬<lb/>
mittelbare Gegenwart, so hat Cornewall Lewis mit Entschiedenheit geleugnet,<lb/>
daß jemals ein Mensch wirklich hundert Jahre alt geworden sei, während<lb/>
Hufeland in der bekannten Schrift: &#x201E;Die Kunst, das menschliche Leben zu<lb/>
verlängern" der Meinung ist, der Mensch könne unter günstigen Umständen<lb/>
ein Alter von fünfzehn Decennien erreichen. Wenn es uns schwer fällt, an diese<lb/>
Möglichkeit zu glauben, so müssen wir auf Grund von Zeitungsberichten aus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] langes Leben als ein hohes Gut aufgefaßt; und die griechischen Stimmen, welche einen frühen Tod als ein Glück priesen, die himmelssüchtigen Pietisten, der Buddhismus Schakjamunis und seine traurigen Nachtreter in der Gegen¬ wart sprachen eben nicht ans gesunder Empfindung, sondern aus krankhafter Empfindsamkeit heraus.. Eine große Anzahl von Sagen und Mythen, Lehren und Vorschriften des Alterthums bezeugt die Wahrheit unsrer Behauptung. Nach der Genesis war das erste Menschenpaar bestimmt, unsterblich zu sein, und zu diesem Zwecke der Baum des Lebeus in den Garten Eden gepflanzt, und das vierte Gebot schließt mit der Verheißung: „auf daß du lange lebest auf Erden." Alle vou Gott Begünstigten bringen es in den Schriften des Alten Testaments zu hohen Jahren. Die Erzväter von Adam bis auf Nocch erreichen fast ohne Ausnahme ein zehnfach höheres Alter, als der 90. Psalm für den Menschen annimmt. Eine rabbinische Tradition erzählt von einer Stadt der Unsterblichkeit, Namens Lus, die in einem Thale des Hethiterlandes liegt, und deren Bewohner, wenn sie zu alt geworden sind und sterben wollen, sich vor das Thor hinaustragen lassen müssen, da sie innerhalb der Mauern den Tod nicht finden können. In der „Jm^M an, Noinie" (aus dem, 13. Jahrhundert) wird Aehnliches von einer „weit draußen im Meere liegenden Insel" berichtet, „deren Bewohner, wenn sie alt und gebrechlich geworden sind, so daß ihnen das Leben zur Last wird, sich, weil sie daheim nicht sterben können, anf das Eiland Eile (Thule) bringen lassen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten Länge hat." Aus der griechischen Sagenwelt erwähnen wir nur Epimenides, den Vertrauten der Götter, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben und 157 Jahre alt geworden sein sollte. Nach Gervasius von Tilbury hatte Alex¬ ander der Große dem Aristoteles von „Bäumen der Sonne und des Mondes" in Indien berichtet, welche Aepfel trugen, deren Genuß den sie bewachenden Priestern ein Leben von vierhundert Jahren verlieh — eine Fabel, die viel¬ leicht Anlaß zu der scharfsinnigen Vermuthung gegeben hat, mit welcher später ein bibelgläubiger englischer Gelehrter sich das hohe Alter Methusalcchs und seiner Väter und Nachkommen damit erklärte, daß ihnen erlaubt gewesen sei, bisweilen vom Baume des Lebens im Paradiese zu essen. Verlassen wir das Gebiet der Mythe und begeben wir uns in die un¬ mittelbare Gegenwart, so hat Cornewall Lewis mit Entschiedenheit geleugnet, daß jemals ein Mensch wirklich hundert Jahre alt geworden sei, während Hufeland in der bekannten Schrift: „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern" der Meinung ist, der Mensch könne unter günstigen Umständen ein Alter von fünfzehn Decennien erreichen. Wenn es uns schwer fällt, an diese Möglichkeit zu glauben, so müssen wir auf Grund von Zeitungsberichten aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/290>, abgerufen am 23.07.2024.