Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu Anfang dieses Decenniums die friedlichsten und freundschaftlichsten Bezieh¬
ungen in der That bestanden.

Ganz anders lagen aber die Dinge in Bezug auf Chiwa. Wie nämlich
die chiwesischen Chane -- wie bereits hervorgehoben -- die Aufstünde der Kir¬
gisen gegen Rußland stets unterstützt hatten, so that es auch Seid-Muhamed-
Rachim-Bahadur-Chan im Jahre 1869. Er leistete der Empörung offen Vor¬
schub und rief selbst auf dem orssk-kasalinsskischen Posttraete Unruhen hervor.
Alle Versuche, den Chan zu bestimmen, den räuberischen Einfällen seiner No¬
maden in russisches Gebiet Einhalt zu thun und vor Allem die auf diesen
Raubzügen in Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen frei zu geben,
waren bisher erfolglos geblieben. Auch die russischer Seits erfolgte Besetzung
von Krasnowodssk am Balkan-Busen und die wiederholt ausgeführten Rekog-
noscirnngen auf dem Plateau des Ast-Art, in den Turkmenen-Steppen und
jenseits des Ssyr, mittelbar doch immer gegen Chiwa gerichtet, vermochten nicht
seine Halsstarrigkeit zu brechen. Hätten doch -- so meinte der Chan -- alle
Züge Rußlands gegen Chiwa und besonders jener des Generals Perowsskij ge¬
nugsam bewiesen, daß es fast unmöglich sei, die Steppen und Wüsten --
diese natürlichen Schutzmauern der Oase -- zu überwinden. Wozu also
unterhandeln? --

Auch russischer Seits war man sich wohl bewußt, daß sich sehr, sehr große
Hindernisse dem Vorgehen gegen Chiwa entgegenstellen würden. Die in letzter
Zeit stattgehabten Recognoscirungen hatten es immer aufs neue bestätigt. Und
doch blieb Rußland nichts anderes übrig, als in einen Krieg gegen den über¬
müthigen Chan einzutreten, ihm die Macht des weißen Zaren voll und ganz
fühlen zu lassen. Im Oetober 1872 war der Feldzug gegen Chiwa be¬
schlossene Sache.

Um allen unliebsamen Weiterungen mit England, das mit gespannter Auf¬
merksamkeit und nicht gerade sehr sympathischen Gefühlen für Rußland diesen
Vorgängen gefolgt war, von vorne herein die Spitze abzubrechen, wurde der
Generaladjutant Graf Schuwalow in außerordentlicher Mission nach London
entsandt. Er gab die beruhigendsten Versicherungen ab, so daß der Lord Granville
in der Sitzung des englischen Oberhauses vom 6. Februar 1873 erklären
konnte: Die russische Regierung habe auf das Bestimmteste jeden Eroberuugs-
plan bei der Expedition gegen Chiwa in Abrede gestellt, und diesen Versiche¬
rungen sei ein solches Gewicht beizumessen, daß sie den formellsten Verpflich¬
tungen gleich erachtet werden könnten.

Mittlerweile hatte Rußland die Vorbereitungen zu dem Feldzuge auf das
Energischste betrieben. Eine genaue Beobachtung der einschlagenden Verhältnisse
während der Jahre nach der verunglückten Expedition des Generals Perowsskij


zu Anfang dieses Decenniums die friedlichsten und freundschaftlichsten Bezieh¬
ungen in der That bestanden.

Ganz anders lagen aber die Dinge in Bezug auf Chiwa. Wie nämlich
die chiwesischen Chane — wie bereits hervorgehoben — die Aufstünde der Kir¬
gisen gegen Rußland stets unterstützt hatten, so that es auch Seid-Muhamed-
Rachim-Bahadur-Chan im Jahre 1869. Er leistete der Empörung offen Vor¬
schub und rief selbst auf dem orssk-kasalinsskischen Posttraete Unruhen hervor.
Alle Versuche, den Chan zu bestimmen, den räuberischen Einfällen seiner No¬
maden in russisches Gebiet Einhalt zu thun und vor Allem die auf diesen
Raubzügen in Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen frei zu geben,
waren bisher erfolglos geblieben. Auch die russischer Seits erfolgte Besetzung
von Krasnowodssk am Balkan-Busen und die wiederholt ausgeführten Rekog-
noscirnngen auf dem Plateau des Ast-Art, in den Turkmenen-Steppen und
jenseits des Ssyr, mittelbar doch immer gegen Chiwa gerichtet, vermochten nicht
seine Halsstarrigkeit zu brechen. Hätten doch — so meinte der Chan — alle
Züge Rußlands gegen Chiwa und besonders jener des Generals Perowsskij ge¬
nugsam bewiesen, daß es fast unmöglich sei, die Steppen und Wüsten —
diese natürlichen Schutzmauern der Oase — zu überwinden. Wozu also
unterhandeln? —

Auch russischer Seits war man sich wohl bewußt, daß sich sehr, sehr große
Hindernisse dem Vorgehen gegen Chiwa entgegenstellen würden. Die in letzter
Zeit stattgehabten Recognoscirungen hatten es immer aufs neue bestätigt. Und
doch blieb Rußland nichts anderes übrig, als in einen Krieg gegen den über¬
müthigen Chan einzutreten, ihm die Macht des weißen Zaren voll und ganz
fühlen zu lassen. Im Oetober 1872 war der Feldzug gegen Chiwa be¬
schlossene Sache.

Um allen unliebsamen Weiterungen mit England, das mit gespannter Auf¬
merksamkeit und nicht gerade sehr sympathischen Gefühlen für Rußland diesen
Vorgängen gefolgt war, von vorne herein die Spitze abzubrechen, wurde der
Generaladjutant Graf Schuwalow in außerordentlicher Mission nach London
entsandt. Er gab die beruhigendsten Versicherungen ab, so daß der Lord Granville
in der Sitzung des englischen Oberhauses vom 6. Februar 1873 erklären
konnte: Die russische Regierung habe auf das Bestimmteste jeden Eroberuugs-
plan bei der Expedition gegen Chiwa in Abrede gestellt, und diesen Versiche¬
rungen sei ein solches Gewicht beizumessen, daß sie den formellsten Verpflich¬
tungen gleich erachtet werden könnten.

Mittlerweile hatte Rußland die Vorbereitungen zu dem Feldzuge auf das
Energischste betrieben. Eine genaue Beobachtung der einschlagenden Verhältnisse
während der Jahre nach der verunglückten Expedition des Generals Perowsskij


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137202"/>
          <p xml:id="ID_100" prev="#ID_99"> zu Anfang dieses Decenniums die friedlichsten und freundschaftlichsten Bezieh¬<lb/>
ungen in der That bestanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_101"> Ganz anders lagen aber die Dinge in Bezug auf Chiwa. Wie nämlich<lb/>
die chiwesischen Chane &#x2014; wie bereits hervorgehoben &#x2014; die Aufstünde der Kir¬<lb/>
gisen gegen Rußland stets unterstützt hatten, so that es auch Seid-Muhamed-<lb/>
Rachim-Bahadur-Chan im Jahre 1869. Er leistete der Empörung offen Vor¬<lb/>
schub und rief selbst auf dem orssk-kasalinsskischen Posttraete Unruhen hervor.<lb/>
Alle Versuche, den Chan zu bestimmen, den räuberischen Einfällen seiner No¬<lb/>
maden in russisches Gebiet Einhalt zu thun und vor Allem die auf diesen<lb/>
Raubzügen in Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen frei zu geben,<lb/>
waren bisher erfolglos geblieben. Auch die russischer Seits erfolgte Besetzung<lb/>
von Krasnowodssk am Balkan-Busen und die wiederholt ausgeführten Rekog-<lb/>
noscirnngen auf dem Plateau des Ast-Art, in den Turkmenen-Steppen und<lb/>
jenseits des Ssyr, mittelbar doch immer gegen Chiwa gerichtet, vermochten nicht<lb/>
seine Halsstarrigkeit zu brechen. Hätten doch &#x2014; so meinte der Chan &#x2014; alle<lb/>
Züge Rußlands gegen Chiwa und besonders jener des Generals Perowsskij ge¬<lb/>
nugsam bewiesen, daß es fast unmöglich sei, die Steppen und Wüsten &#x2014;<lb/>
diese natürlichen Schutzmauern der Oase &#x2014; zu überwinden. Wozu also<lb/>
unterhandeln? &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_102"> Auch russischer Seits war man sich wohl bewußt, daß sich sehr, sehr große<lb/>
Hindernisse dem Vorgehen gegen Chiwa entgegenstellen würden. Die in letzter<lb/>
Zeit stattgehabten Recognoscirungen hatten es immer aufs neue bestätigt. Und<lb/>
doch blieb Rußland nichts anderes übrig, als in einen Krieg gegen den über¬<lb/>
müthigen Chan einzutreten, ihm die Macht des weißen Zaren voll und ganz<lb/>
fühlen zu lassen. Im Oetober 1872 war der Feldzug gegen Chiwa be¬<lb/>
schlossene Sache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_103"> Um allen unliebsamen Weiterungen mit England, das mit gespannter Auf¬<lb/>
merksamkeit und nicht gerade sehr sympathischen Gefühlen für Rußland diesen<lb/>
Vorgängen gefolgt war, von vorne herein die Spitze abzubrechen, wurde der<lb/>
Generaladjutant Graf Schuwalow in außerordentlicher Mission nach London<lb/>
entsandt. Er gab die beruhigendsten Versicherungen ab, so daß der Lord Granville<lb/>
in der Sitzung des englischen Oberhauses vom 6. Februar 1873 erklären<lb/>
konnte: Die russische Regierung habe auf das Bestimmteste jeden Eroberuugs-<lb/>
plan bei der Expedition gegen Chiwa in Abrede gestellt, und diesen Versiche¬<lb/>
rungen sei ein solches Gewicht beizumessen, daß sie den formellsten Verpflich¬<lb/>
tungen gleich erachtet werden könnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_104" next="#ID_105"> Mittlerweile hatte Rußland die Vorbereitungen zu dem Feldzuge auf das<lb/>
Energischste betrieben. Eine genaue Beobachtung der einschlagenden Verhältnisse<lb/>
während der Jahre nach der verunglückten Expedition des Generals Perowsskij</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] zu Anfang dieses Decenniums die friedlichsten und freundschaftlichsten Bezieh¬ ungen in der That bestanden. Ganz anders lagen aber die Dinge in Bezug auf Chiwa. Wie nämlich die chiwesischen Chane — wie bereits hervorgehoben — die Aufstünde der Kir¬ gisen gegen Rußland stets unterstützt hatten, so that es auch Seid-Muhamed- Rachim-Bahadur-Chan im Jahre 1869. Er leistete der Empörung offen Vor¬ schub und rief selbst auf dem orssk-kasalinsskischen Posttraete Unruhen hervor. Alle Versuche, den Chan zu bestimmen, den räuberischen Einfällen seiner No¬ maden in russisches Gebiet Einhalt zu thun und vor Allem die auf diesen Raubzügen in Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen frei zu geben, waren bisher erfolglos geblieben. Auch die russischer Seits erfolgte Besetzung von Krasnowodssk am Balkan-Busen und die wiederholt ausgeführten Rekog- noscirnngen auf dem Plateau des Ast-Art, in den Turkmenen-Steppen und jenseits des Ssyr, mittelbar doch immer gegen Chiwa gerichtet, vermochten nicht seine Halsstarrigkeit zu brechen. Hätten doch — so meinte der Chan — alle Züge Rußlands gegen Chiwa und besonders jener des Generals Perowsskij ge¬ nugsam bewiesen, daß es fast unmöglich sei, die Steppen und Wüsten — diese natürlichen Schutzmauern der Oase — zu überwinden. Wozu also unterhandeln? — Auch russischer Seits war man sich wohl bewußt, daß sich sehr, sehr große Hindernisse dem Vorgehen gegen Chiwa entgegenstellen würden. Die in letzter Zeit stattgehabten Recognoscirungen hatten es immer aufs neue bestätigt. Und doch blieb Rußland nichts anderes übrig, als in einen Krieg gegen den über¬ müthigen Chan einzutreten, ihm die Macht des weißen Zaren voll und ganz fühlen zu lassen. Im Oetober 1872 war der Feldzug gegen Chiwa be¬ schlossene Sache. Um allen unliebsamen Weiterungen mit England, das mit gespannter Auf¬ merksamkeit und nicht gerade sehr sympathischen Gefühlen für Rußland diesen Vorgängen gefolgt war, von vorne herein die Spitze abzubrechen, wurde der Generaladjutant Graf Schuwalow in außerordentlicher Mission nach London entsandt. Er gab die beruhigendsten Versicherungen ab, so daß der Lord Granville in der Sitzung des englischen Oberhauses vom 6. Februar 1873 erklären konnte: Die russische Regierung habe auf das Bestimmteste jeden Eroberuugs- plan bei der Expedition gegen Chiwa in Abrede gestellt, und diesen Versiche¬ rungen sei ein solches Gewicht beizumessen, daß sie den formellsten Verpflich¬ tungen gleich erachtet werden könnten. Mittlerweile hatte Rußland die Vorbereitungen zu dem Feldzuge auf das Energischste betrieben. Eine genaue Beobachtung der einschlagenden Verhältnisse während der Jahre nach der verunglückten Expedition des Generals Perowsskij

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/29>, abgerufen am 23.07.2024.