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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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her fehlendes Gefühl nationaler Znsanuneiigchörigkeit erwächst und damit das
Bewußtsein der Kraft, die Fremdherrschaft abschütteln zu können. Bemerkens¬
werth ist es in dieser Beziehung, zu constatiren, daß unter den Eingebornen
in hohem Grade schon das bekannt ist, was wir als öffentliche Meinung
zu bezeichnen pflegen. Ihren Ausdruck findet dieselbe zumal in der ein¬
heimischen Presse, die eine recht beträchtliche Ausdehnung angenommen
hat. Ju dieser Presse herrscht das Urdu vor, ein Mischsprache, welche sich
mehr und mehr in Indien als Verkehrssprache verbreitet. In dieser Sprache
geschriebene feindselige Aeußerungen gehen wie ein Lauffeuer durch das Land
-- dazu kommt die besondere Schnelligkeit, mit der sich im Orient heimlich
und öffentlich Gerüchte verbreiten. Ein Beispiel, wie die Verhältnisse in dieser
Beziehung modern und den europäischen entsprechend sind, ist, daß die Hindu-
Bevölkerung am Madras die Bewilligung von Geldmitteln für den Empfang
des Prinzen von Wales ablehnte, "weil sie für die großen Auslagen zur Be-
willkommnung des Herzogs von Edinburg keine entsprechenden Wohlthaten ge¬
nossen habe."

Ein Aufstand erscheint nach dem vorher Gesagten nicht wahrs cheinlich,
solange nicht von Außen her eine Einwirkung auf die Bevölkerung geübt
wird, eine Eventualität, mit der aber jedenfalls gerechnet werden muß.

Den allein durchaus zuverlässigen und leistungsfähigen 62,000 Mann
englischen Truppen stehen 128,000 eingeborne Soldaten, allerdings fast ohne
Artillerie, in diesem Falle vielleicht nicht als Stütze zur Seite, soudern als
Feind gegenüber. Dennoch würde mit Rücksicht auf die Qualität der ein¬
gebornen Truppen dies Verhältniß noch gar nicht so ungünstig sein, wenn
nicht bei einem etwaigen Aufstände, wie wir bald sehen werden, wahrscheinlich
noch mit anderen Factoren zu rechnen sein wird.

Es sind dies Alles Umstünde, die in England seit geraumer Zeit reiflich
erwogen werden, zur Zeit jedoch aus dem Stadium der Berathungen noch
nicht herausgetreten find. Die schwebenden Projecte dürften sein: Ausgleich
und Verschmelzung der Raren-, Kasten- und Religions-Unterschiede, um die
Gefahr des aufkeimenden spezial-nationalen Bewußtseins zu Paralysiren und
Alles dem eiuen Zweck, dem Wohl des Landes dienstbar zu machen, ferner
allmähliche Erlösung der englischen Regimenter aus einem Klima, das sie in
wahrhaft entsetzlicher Weise durch Krankheit und Tod decimirt, und Ersatz der¬
selben dnrch verläßliche und gut geschulte heimische Elemente; zu diesem Zweck
völlige Umformung der gegenwärtigen indischen Armee zunächst durch Zu-
theilung ständiger, vollzähliger und besserer europäischer Offizier-Corps, dem¬
nächst vielleicht, wie schon gesagt, Heranziehung der Mischbevölkerung und
Heranbildung eines leistungsfähigen und zuverlässigen einheimischen Offizier-


her fehlendes Gefühl nationaler Znsanuneiigchörigkeit erwächst und damit das
Bewußtsein der Kraft, die Fremdherrschaft abschütteln zu können. Bemerkens¬
werth ist es in dieser Beziehung, zu constatiren, daß unter den Eingebornen
in hohem Grade schon das bekannt ist, was wir als öffentliche Meinung
zu bezeichnen pflegen. Ihren Ausdruck findet dieselbe zumal in der ein¬
heimischen Presse, die eine recht beträchtliche Ausdehnung angenommen
hat. Ju dieser Presse herrscht das Urdu vor, ein Mischsprache, welche sich
mehr und mehr in Indien als Verkehrssprache verbreitet. In dieser Sprache
geschriebene feindselige Aeußerungen gehen wie ein Lauffeuer durch das Land
— dazu kommt die besondere Schnelligkeit, mit der sich im Orient heimlich
und öffentlich Gerüchte verbreiten. Ein Beispiel, wie die Verhältnisse in dieser
Beziehung modern und den europäischen entsprechend sind, ist, daß die Hindu-
Bevölkerung am Madras die Bewilligung von Geldmitteln für den Empfang
des Prinzen von Wales ablehnte, „weil sie für die großen Auslagen zur Be-
willkommnung des Herzogs von Edinburg keine entsprechenden Wohlthaten ge¬
nossen habe."

Ein Aufstand erscheint nach dem vorher Gesagten nicht wahrs cheinlich,
solange nicht von Außen her eine Einwirkung auf die Bevölkerung geübt
wird, eine Eventualität, mit der aber jedenfalls gerechnet werden muß.

Den allein durchaus zuverlässigen und leistungsfähigen 62,000 Mann
englischen Truppen stehen 128,000 eingeborne Soldaten, allerdings fast ohne
Artillerie, in diesem Falle vielleicht nicht als Stütze zur Seite, soudern als
Feind gegenüber. Dennoch würde mit Rücksicht auf die Qualität der ein¬
gebornen Truppen dies Verhältniß noch gar nicht so ungünstig sein, wenn
nicht bei einem etwaigen Aufstände, wie wir bald sehen werden, wahrscheinlich
noch mit anderen Factoren zu rechnen sein wird.

Es sind dies Alles Umstünde, die in England seit geraumer Zeit reiflich
erwogen werden, zur Zeit jedoch aus dem Stadium der Berathungen noch
nicht herausgetreten find. Die schwebenden Projecte dürften sein: Ausgleich
und Verschmelzung der Raren-, Kasten- und Religions-Unterschiede, um die
Gefahr des aufkeimenden spezial-nationalen Bewußtseins zu Paralysiren und
Alles dem eiuen Zweck, dem Wohl des Landes dienstbar zu machen, ferner
allmähliche Erlösung der englischen Regimenter aus einem Klima, das sie in
wahrhaft entsetzlicher Weise durch Krankheit und Tod decimirt, und Ersatz der¬
selben dnrch verläßliche und gut geschulte heimische Elemente; zu diesem Zweck
völlige Umformung der gegenwärtigen indischen Armee zunächst durch Zu-
theilung ständiger, vollzähliger und besserer europäischer Offizier-Corps, dem¬
nächst vielleicht, wie schon gesagt, Heranziehung der Mischbevölkerung und
Heranbildung eines leistungsfähigen und zuverlässigen einheimischen Offizier-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/251>, abgerufen am 23.07.2024.