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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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gegen alles Andere und so zu sagen bewußtlos machen. Als ihm das Un¬
würdige seiner Handlung vorgerückt wird, sagt er naiv, aber vollkommen wahr
und aufrichtig, er habe an die Herzogin gar nicht gedacht. Er hat überhaupt
nicht gedacht. In seiner Rachsucht (und italienische Rachsucht ist noch etwas
Anderes, als deutsche) dachte er an die Herzogin so wenig als an Hekuba und
schrieb mit zitternder Hand an den Dogenstuhl, was ihm gerade durch den
Kopf schoß. Wie im Traum erinnerte er sich daran, daß er die Herzogin
geküßt, und durch eine Ideenassociation brachte er die Küsse in dem
Reime an."

Diese Rechtfertigung würde uns ungenügend erscheinen. Denn im Drama
soll der Charakter sich auch im höchsten Affect treu bleiben. Nur das Ueber¬
maß der Charaktereigeuthümlichkeit soll dann zu Tage treten. Die Eigen¬
thümlichkeit Stenos ist aber mit Nichten die Gemeinheit. Daß diese strengen
Anforderungen der Theorie nicht selten ignorirt werden mögen, im Interesse
einer Steigerung der Verwickelung, einer Verlängerung der dramatischen Span¬
nung, das mag sein. Aber die unglückselige Begegnung der Dogaressa mit
Steno, welche in uusern Augen die sonst so reine und erfreuliche Zeichnung
des Charakters Stenos verdirbt, hat noch andere Mängel für die Entwickelung
der dramatischen Handlung im Gefolge. Der Herzog erfährt über jene Begeg¬
nung nnr halbe Worte, die seinen Verdacht gegen das treue Weib aufregen.
Noch nachdem er zum Tode verurtheilt ist und hingerichtet werden soll, denkt
er daran, seiner Gattin -- bei der letzten Begegnung, die ihm mit ihr beschie-
den ist! -- mit seinem blanken Schwert zu drohen, um die volle Wahrheit
von ihr zu erpressen. Da erklärt ihm zuerst das Hoffräulein Nerina das Mi߬
verständniß. Und dann ist die letzte Unterredung zwischen den Gatten aber¬
mals allein den in solcher Situation dem Zuhörer, der längst Alles weiß,
völlig nichtigen Details des Zusammentreffens der Herzogin mit Steno in
der Hauptsache gewidmet. Wie groß hätte die Seine ohne diese leidige Ge¬
schichte gestaltet werden können! --

Auch der gesunde Realismus, der Kruses Schöpfungen inne wohnt und
Leben verleiht, schießt nach unsrer Ansicht in seinem "Marino Faliero"
manchmal über die Grenzen des Schönen hinaus. So wäre das Gezänke
zwischen dem Dogen und Steno in den ersten Scenen schon vor jedem deut¬
schen Bagatellrichter undenkbar. Vor dem hohen Rathe der Vierzig zu Venedig
und bei dem Range der Streitenden wirkt es dagegen sicherlich im entgegenge¬
setzten Sinne des Dichters, wenn Michel Steno ruft:


"Der Doge macht's wie ein Kastammwcib",

oder der Doge fragt:


"Wer hat das größte Maul in ganz Venedig?"

gegen alles Andere und so zu sagen bewußtlos machen. Als ihm das Un¬
würdige seiner Handlung vorgerückt wird, sagt er naiv, aber vollkommen wahr
und aufrichtig, er habe an die Herzogin gar nicht gedacht. Er hat überhaupt
nicht gedacht. In seiner Rachsucht (und italienische Rachsucht ist noch etwas
Anderes, als deutsche) dachte er an die Herzogin so wenig als an Hekuba und
schrieb mit zitternder Hand an den Dogenstuhl, was ihm gerade durch den
Kopf schoß. Wie im Traum erinnerte er sich daran, daß er die Herzogin
geküßt, und durch eine Ideenassociation brachte er die Küsse in dem
Reime an."

Diese Rechtfertigung würde uns ungenügend erscheinen. Denn im Drama
soll der Charakter sich auch im höchsten Affect treu bleiben. Nur das Ueber¬
maß der Charaktereigeuthümlichkeit soll dann zu Tage treten. Die Eigen¬
thümlichkeit Stenos ist aber mit Nichten die Gemeinheit. Daß diese strengen
Anforderungen der Theorie nicht selten ignorirt werden mögen, im Interesse
einer Steigerung der Verwickelung, einer Verlängerung der dramatischen Span¬
nung, das mag sein. Aber die unglückselige Begegnung der Dogaressa mit
Steno, welche in uusern Augen die sonst so reine und erfreuliche Zeichnung
des Charakters Stenos verdirbt, hat noch andere Mängel für die Entwickelung
der dramatischen Handlung im Gefolge. Der Herzog erfährt über jene Begeg¬
nung nnr halbe Worte, die seinen Verdacht gegen das treue Weib aufregen.
Noch nachdem er zum Tode verurtheilt ist und hingerichtet werden soll, denkt
er daran, seiner Gattin — bei der letzten Begegnung, die ihm mit ihr beschie-
den ist! — mit seinem blanken Schwert zu drohen, um die volle Wahrheit
von ihr zu erpressen. Da erklärt ihm zuerst das Hoffräulein Nerina das Mi߬
verständniß. Und dann ist die letzte Unterredung zwischen den Gatten aber¬
mals allein den in solcher Situation dem Zuhörer, der längst Alles weiß,
völlig nichtigen Details des Zusammentreffens der Herzogin mit Steno in
der Hauptsache gewidmet. Wie groß hätte die Seine ohne diese leidige Ge¬
schichte gestaltet werden können! —

Auch der gesunde Realismus, der Kruses Schöpfungen inne wohnt und
Leben verleiht, schießt nach unsrer Ansicht in seinem „Marino Faliero"
manchmal über die Grenzen des Schönen hinaus. So wäre das Gezänke
zwischen dem Dogen und Steno in den ersten Scenen schon vor jedem deut¬
schen Bagatellrichter undenkbar. Vor dem hohen Rathe der Vierzig zu Venedig
und bei dem Range der Streitenden wirkt es dagegen sicherlich im entgegenge¬
setzten Sinne des Dichters, wenn Michel Steno ruft:


„Der Doge macht's wie ein Kastammwcib",

oder der Doge fragt:


„Wer hat das größte Maul in ganz Venedig?"
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[0230] gegen alles Andere und so zu sagen bewußtlos machen. Als ihm das Un¬ würdige seiner Handlung vorgerückt wird, sagt er naiv, aber vollkommen wahr und aufrichtig, er habe an die Herzogin gar nicht gedacht. Er hat überhaupt nicht gedacht. In seiner Rachsucht (und italienische Rachsucht ist noch etwas Anderes, als deutsche) dachte er an die Herzogin so wenig als an Hekuba und schrieb mit zitternder Hand an den Dogenstuhl, was ihm gerade durch den Kopf schoß. Wie im Traum erinnerte er sich daran, daß er die Herzogin geküßt, und durch eine Ideenassociation brachte er die Küsse in dem Reime an." Diese Rechtfertigung würde uns ungenügend erscheinen. Denn im Drama soll der Charakter sich auch im höchsten Affect treu bleiben. Nur das Ueber¬ maß der Charaktereigeuthümlichkeit soll dann zu Tage treten. Die Eigen¬ thümlichkeit Stenos ist aber mit Nichten die Gemeinheit. Daß diese strengen Anforderungen der Theorie nicht selten ignorirt werden mögen, im Interesse einer Steigerung der Verwickelung, einer Verlängerung der dramatischen Span¬ nung, das mag sein. Aber die unglückselige Begegnung der Dogaressa mit Steno, welche in uusern Augen die sonst so reine und erfreuliche Zeichnung des Charakters Stenos verdirbt, hat noch andere Mängel für die Entwickelung der dramatischen Handlung im Gefolge. Der Herzog erfährt über jene Begeg¬ nung nnr halbe Worte, die seinen Verdacht gegen das treue Weib aufregen. Noch nachdem er zum Tode verurtheilt ist und hingerichtet werden soll, denkt er daran, seiner Gattin — bei der letzten Begegnung, die ihm mit ihr beschie- den ist! — mit seinem blanken Schwert zu drohen, um die volle Wahrheit von ihr zu erpressen. Da erklärt ihm zuerst das Hoffräulein Nerina das Mi߬ verständniß. Und dann ist die letzte Unterredung zwischen den Gatten aber¬ mals allein den in solcher Situation dem Zuhörer, der längst Alles weiß, völlig nichtigen Details des Zusammentreffens der Herzogin mit Steno in der Hauptsache gewidmet. Wie groß hätte die Seine ohne diese leidige Ge¬ schichte gestaltet werden können! — Auch der gesunde Realismus, der Kruses Schöpfungen inne wohnt und Leben verleiht, schießt nach unsrer Ansicht in seinem „Marino Faliero" manchmal über die Grenzen des Schönen hinaus. So wäre das Gezänke zwischen dem Dogen und Steno in den ersten Scenen schon vor jedem deut¬ schen Bagatellrichter undenkbar. Vor dem hohen Rathe der Vierzig zu Venedig und bei dem Range der Streitenden wirkt es dagegen sicherlich im entgegenge¬ setzten Sinne des Dichters, wenn Michel Steno ruft: „Der Doge macht's wie ein Kastammwcib", oder der Doge fragt: „Wer hat das größte Maul in ganz Venedig?"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/230>, abgerufen am 23.07.2024.