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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Spitze zu setzen, war ja bekanntlich das Pasquill eines jungen Nobile Michel
Steno, das in giftigen Worten die Tugend der Dogaressa anzweifelte, über
Nacht an dem Ehrensitz des Dogen angeheftet wurde und für einige Tage im
damaligen Venedig die Rolle der "Reichsglocke" spielte. Sitzredacteure gab es
damals noch nicht; daher mußte Michel Steno, der die Verfasserschaft der
namenlosen Schmähverse*) nicht leugnen konnte, allerdings daran glauben.
Aber statt der Todesstrafe, die der Doge, im Glauben an seine monarchische
Würde, erwartete, erkannte der weise Rath der Vierzig auf zwei Monate Ge¬
fängniß und nachher auf ein Jahr Verbannung für den jugendlichen Uebel¬
thäter. Das war Alles. Der Doge gerieth außer sich. Und da ein anderer
Spruch von andern Staatsbehörden nicht gefällt wurde, fühlte er sich rechtlos,
geflissentlich gekränkt, und er verbündete sich mit den Unzufriedenen des Arsenals
und der Bürgerkreise, um seine Rache zu kühlen. Das Verhängniß der un¬
natürlichen Fiction jeder aristokratischen Staatsverfassung, welche das Staats¬
oberhaupt nur als den Ersten unter Gleichen und noch dazu mit absoluter
Willensuufreiheit leben läßt und am peinlichsten von einem Liebling der Flotte
und des Heeres, einem tapferen Kriegshelden wie Falierv, empfunden werden
muß, hat den alten Dogen sicherlich zu seinem unheilvollen Entschlüsse mit be¬
stimmt. Auch das kommt bei Krnse zu voller Geltung. Nur oberflächliche
Leser seines Dramas können das leugnen.

Darin liegt aber das Räthsel nicht, das die historische Tragödie "Marino
Faliero" dem Leser und Forscher aufgiebt.

Wer dagegen ein einziges Mal in Se. Giovanni e Paolo in Venedig das
herrliche Grabbild Michel Stenos geschaut hat, diesen geistvollen, bedeutenden,
staatsmännischen, durch und durch edeln Kopf, dem drängt sich das Räthsel
dieser Tragödie mit Macht auf; jetzt, nach mehr als fünfhundert Jahren, wie
in einem Jahrtausend denen, die dann leben werden. War der Mann, der
dieses Antlitz trug, der mit den höchsten Ehren seines Staates bekleidet, als
achtzigjähriger Doge von Venedig gestorben ist, in seiner Jugend, d. h. in den
Tagen seines lebhaftesten und frohmüthigsten Empfindens, wirklich nur das
giftige Reptil, als das Byron ihn schildert? Das ist kaum denkbar.

Wir denken von den gewaltsamen Ehrenrettungen unserer Tage, wie sie
z. B. der selige Adolf Stahr seinen geliebten römischen Kaisern und Prin-



" "II Dose I^Iivr äsll" dslla inuwr
I Ältri I" goäs 6 lui w mavtivu."
)
Kruse übersetzt etwas milder, als das Original lautet (Zoäk. genießen, mit küssen): "Des Dogen schöne Frau lebt herrlich mit dem Alten,
Ein Andrer küsset sie, er muß sie unterhalten."

Spitze zu setzen, war ja bekanntlich das Pasquill eines jungen Nobile Michel
Steno, das in giftigen Worten die Tugend der Dogaressa anzweifelte, über
Nacht an dem Ehrensitz des Dogen angeheftet wurde und für einige Tage im
damaligen Venedig die Rolle der „Reichsglocke" spielte. Sitzredacteure gab es
damals noch nicht; daher mußte Michel Steno, der die Verfasserschaft der
namenlosen Schmähverse*) nicht leugnen konnte, allerdings daran glauben.
Aber statt der Todesstrafe, die der Doge, im Glauben an seine monarchische
Würde, erwartete, erkannte der weise Rath der Vierzig auf zwei Monate Ge¬
fängniß und nachher auf ein Jahr Verbannung für den jugendlichen Uebel¬
thäter. Das war Alles. Der Doge gerieth außer sich. Und da ein anderer
Spruch von andern Staatsbehörden nicht gefällt wurde, fühlte er sich rechtlos,
geflissentlich gekränkt, und er verbündete sich mit den Unzufriedenen des Arsenals
und der Bürgerkreise, um seine Rache zu kühlen. Das Verhängniß der un¬
natürlichen Fiction jeder aristokratischen Staatsverfassung, welche das Staats¬
oberhaupt nur als den Ersten unter Gleichen und noch dazu mit absoluter
Willensuufreiheit leben läßt und am peinlichsten von einem Liebling der Flotte
und des Heeres, einem tapferen Kriegshelden wie Falierv, empfunden werden
muß, hat den alten Dogen sicherlich zu seinem unheilvollen Entschlüsse mit be¬
stimmt. Auch das kommt bei Krnse zu voller Geltung. Nur oberflächliche
Leser seines Dramas können das leugnen.

Darin liegt aber das Räthsel nicht, das die historische Tragödie „Marino
Faliero" dem Leser und Forscher aufgiebt.

Wer dagegen ein einziges Mal in Se. Giovanni e Paolo in Venedig das
herrliche Grabbild Michel Stenos geschaut hat, diesen geistvollen, bedeutenden,
staatsmännischen, durch und durch edeln Kopf, dem drängt sich das Räthsel
dieser Tragödie mit Macht auf; jetzt, nach mehr als fünfhundert Jahren, wie
in einem Jahrtausend denen, die dann leben werden. War der Mann, der
dieses Antlitz trug, der mit den höchsten Ehren seines Staates bekleidet, als
achtzigjähriger Doge von Venedig gestorben ist, in seiner Jugend, d. h. in den
Tagen seines lebhaftesten und frohmüthigsten Empfindens, wirklich nur das
giftige Reptil, als das Byron ihn schildert? Das ist kaum denkbar.

Wir denken von den gewaltsamen Ehrenrettungen unserer Tage, wie sie
z. B. der selige Adolf Stahr seinen geliebten römischen Kaisern und Prin-



" „II Dose I^Iivr äsll» dslla inuwr
I Ältri I» goäs 6 lui w mavtivu."
)
Kruse übersetzt etwas milder, als das Original lautet (Zoäk. genießen, mit küssen): „Des Dogen schöne Frau lebt herrlich mit dem Alten,
Ein Andrer küsset sie, er muß sie unterhalten."
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[0227] Spitze zu setzen, war ja bekanntlich das Pasquill eines jungen Nobile Michel Steno, das in giftigen Worten die Tugend der Dogaressa anzweifelte, über Nacht an dem Ehrensitz des Dogen angeheftet wurde und für einige Tage im damaligen Venedig die Rolle der „Reichsglocke" spielte. Sitzredacteure gab es damals noch nicht; daher mußte Michel Steno, der die Verfasserschaft der namenlosen Schmähverse*) nicht leugnen konnte, allerdings daran glauben. Aber statt der Todesstrafe, die der Doge, im Glauben an seine monarchische Würde, erwartete, erkannte der weise Rath der Vierzig auf zwei Monate Ge¬ fängniß und nachher auf ein Jahr Verbannung für den jugendlichen Uebel¬ thäter. Das war Alles. Der Doge gerieth außer sich. Und da ein anderer Spruch von andern Staatsbehörden nicht gefällt wurde, fühlte er sich rechtlos, geflissentlich gekränkt, und er verbündete sich mit den Unzufriedenen des Arsenals und der Bürgerkreise, um seine Rache zu kühlen. Das Verhängniß der un¬ natürlichen Fiction jeder aristokratischen Staatsverfassung, welche das Staats¬ oberhaupt nur als den Ersten unter Gleichen und noch dazu mit absoluter Willensuufreiheit leben läßt und am peinlichsten von einem Liebling der Flotte und des Heeres, einem tapferen Kriegshelden wie Falierv, empfunden werden muß, hat den alten Dogen sicherlich zu seinem unheilvollen Entschlüsse mit be¬ stimmt. Auch das kommt bei Krnse zu voller Geltung. Nur oberflächliche Leser seines Dramas können das leugnen. Darin liegt aber das Räthsel nicht, das die historische Tragödie „Marino Faliero" dem Leser und Forscher aufgiebt. Wer dagegen ein einziges Mal in Se. Giovanni e Paolo in Venedig das herrliche Grabbild Michel Stenos geschaut hat, diesen geistvollen, bedeutenden, staatsmännischen, durch und durch edeln Kopf, dem drängt sich das Räthsel dieser Tragödie mit Macht auf; jetzt, nach mehr als fünfhundert Jahren, wie in einem Jahrtausend denen, die dann leben werden. War der Mann, der dieses Antlitz trug, der mit den höchsten Ehren seines Staates bekleidet, als achtzigjähriger Doge von Venedig gestorben ist, in seiner Jugend, d. h. in den Tagen seines lebhaftesten und frohmüthigsten Empfindens, wirklich nur das giftige Reptil, als das Byron ihn schildert? Das ist kaum denkbar. Wir denken von den gewaltsamen Ehrenrettungen unserer Tage, wie sie z. B. der selige Adolf Stahr seinen geliebten römischen Kaisern und Prin- " „II Dose I^Iivr äsll» dslla inuwr I Ältri I» goäs 6 lui w mavtivu." ) Kruse übersetzt etwas milder, als das Original lautet (Zoäk. genießen, mit küssen): „Des Dogen schöne Frau lebt herrlich mit dem Alten, Ein Andrer küsset sie, er muß sie unterhalten."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/227>, abgerufen am 23.07.2024.