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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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der Thatsachen, daß sie in der Verwechselung des Sach- und Erkenntnißgrnndes
mit dem Denken des Begriffs auch die Sache zu denken und zu setzen meinte.
In diese Einseitigkeit riß die Begeisterung über die Entdeckung Kant's, daß
alles Wissen ein Product des Geistes sei. Man vergaß, daß das Wissen zwar
von einer geistigen Kraft producirt sei, aber doch nur, weil ein zu ordnender
Stoff gegeben ist. Und diese Einseitigkeit des Vernunftwissens rief dann Ein¬
schränkungen hervor. Man wies mit größerem Nachdruck wieder auf das in-
duetiv Gegebene, auf die Wahrheit der Thatsachen hin. In der Philosophie
machte Schleiermacher dein Vernnnftwissen gegenüber das Gefühl und das in¬
dividuelle Bewußtsein geltend. Herbart suchte das Räthsel, wie aus der unter¬
schiedslosen Einheit die Vielheit entstehe, zu vermeiden, dnrch die Annahme
realer Wesen und der Methode der Beziehungen. Gegenüber Hegel, welcher
wie Aristoteles das theoretische Leben als das göttliche und das praktische als
das endliche menschliche hinstellte (447) und so das reine Denken zum Prineip
machte, machte Schopenhauer den Willen zum Prineip des Ewigen. Insofern
nun der Wille, wie oben erwähnt, ein Problem der neueuropäischen Völker ist'
könnte man sagen, der Christenthumverächter Schopenhauer, in Opposition gegen
Aristoteles-Hegel, belebte ein Problem wieder, das seinen Ursprung grade dem
Christenthum verdankt.

In Betreff der Darstellung der einzelne" Systeme muß ich auf das treff¬
liche Buch selbst verweisen. In unsrer pessimistischen Zeit wird vielleicht
Harms'Kritik von Schopenhauer den meisten Zorn erregen; aber mit Unrecht
In einem kurzen Kapitel deutet Harms noch kurz auf die Gegensätze der Gegen¬
wart hin. Zwei Richtungen, sagt er am Schluß, bekämpfen sich; eine theistische
und eine atheistische. Letztere nennt er Anthropologismus, weil in ihr der
Mensch zum Princip und Endzweck der Natur gemacht ist. Die philosophische
Frage der Gegenwart sei, ob dieser Anthropologismus die Philosophie sei oder
nicht. Angelegt sei er in Kant's Kritik der reinen Vernunft und enthalten sei
er in Hegel's Naturphilosophie. Die Beantwortung dieser Frage hänge mit der
Auffassung von Kant's System zusammen. Harms hofft durch seine abweichende
Auffassung vom Wesen der Kant'schen Philosophie, wie durch die Grundlegung
zu ihrer Fortbildung einen Beitrag zur Lösung der philosophischen Frage der
Gegenwart gegeben zu haben. Und wir hoffen dies auch, wenn das Buch die
gebührende Aufnahme findet. Dies aber wünschen wir um so mehr, als an
dem Geist der Freiheit, den Harms' Schrift ausathmet, sich die Freude an der
deutschen ideale" Philosophie wieder allgemeiner entzünden kann; und diese
Philosophie ist es, welche die Freithätigkeit des Denkens und die Selbstgewi߬
heit des Thuns ermöglicht und begründet.




der Thatsachen, daß sie in der Verwechselung des Sach- und Erkenntnißgrnndes
mit dem Denken des Begriffs auch die Sache zu denken und zu setzen meinte.
In diese Einseitigkeit riß die Begeisterung über die Entdeckung Kant's, daß
alles Wissen ein Product des Geistes sei. Man vergaß, daß das Wissen zwar
von einer geistigen Kraft producirt sei, aber doch nur, weil ein zu ordnender
Stoff gegeben ist. Und diese Einseitigkeit des Vernunftwissens rief dann Ein¬
schränkungen hervor. Man wies mit größerem Nachdruck wieder auf das in-
duetiv Gegebene, auf die Wahrheit der Thatsachen hin. In der Philosophie
machte Schleiermacher dein Vernnnftwissen gegenüber das Gefühl und das in¬
dividuelle Bewußtsein geltend. Herbart suchte das Räthsel, wie aus der unter¬
schiedslosen Einheit die Vielheit entstehe, zu vermeiden, dnrch die Annahme
realer Wesen und der Methode der Beziehungen. Gegenüber Hegel, welcher
wie Aristoteles das theoretische Leben als das göttliche und das praktische als
das endliche menschliche hinstellte (447) und so das reine Denken zum Prineip
machte, machte Schopenhauer den Willen zum Prineip des Ewigen. Insofern
nun der Wille, wie oben erwähnt, ein Problem der neueuropäischen Völker ist'
könnte man sagen, der Christenthumverächter Schopenhauer, in Opposition gegen
Aristoteles-Hegel, belebte ein Problem wieder, das seinen Ursprung grade dem
Christenthum verdankt.

In Betreff der Darstellung der einzelne» Systeme muß ich auf das treff¬
liche Buch selbst verweisen. In unsrer pessimistischen Zeit wird vielleicht
Harms'Kritik von Schopenhauer den meisten Zorn erregen; aber mit Unrecht
In einem kurzen Kapitel deutet Harms noch kurz auf die Gegensätze der Gegen¬
wart hin. Zwei Richtungen, sagt er am Schluß, bekämpfen sich; eine theistische
und eine atheistische. Letztere nennt er Anthropologismus, weil in ihr der
Mensch zum Princip und Endzweck der Natur gemacht ist. Die philosophische
Frage der Gegenwart sei, ob dieser Anthropologismus die Philosophie sei oder
nicht. Angelegt sei er in Kant's Kritik der reinen Vernunft und enthalten sei
er in Hegel's Naturphilosophie. Die Beantwortung dieser Frage hänge mit der
Auffassung von Kant's System zusammen. Harms hofft durch seine abweichende
Auffassung vom Wesen der Kant'schen Philosophie, wie durch die Grundlegung
zu ihrer Fortbildung einen Beitrag zur Lösung der philosophischen Frage der
Gegenwart gegeben zu haben. Und wir hoffen dies auch, wenn das Buch die
gebührende Aufnahme findet. Dies aber wünschen wir um so mehr, als an
dem Geist der Freiheit, den Harms' Schrift ausathmet, sich die Freude an der
deutschen ideale» Philosophie wieder allgemeiner entzünden kann; und diese
Philosophie ist es, welche die Freithätigkeit des Denkens und die Selbstgewi߬
heit des Thuns ermöglicht und begründet.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/178>, abgerufen am 23.07.2024.