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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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riß jenen Sinn verbinden. Jedes System der deutschen Philosophie documen-
tirt diesen Willen (29).

Vier Richtungen enthält diese Periode, ohne deren Unterscheidung eine
klare Vorstellung vom Ganzen und ein richtiges Urtheil nicht zu erhalten sein
wird (56). Der erste Abschnitt enthält die Anfänge der deutschen Philosophie
durch Lessing, Herder, Jacobi (58 --117). Sie verhalten sich zwar polemisch
gegen den Kritieismus, aber sie haben auch den Standpunkt des Rationalismus
überwunden und erneuern das religiöse Leben, indem sie der Orthodoxie gegen¬
über hinweisen, daß die Religion nicht nur Sache des Verstandes, sondern
auch des Herzens und des Gemüthes sei. Lessing's Schilderung ist besonders
beherzigenswert!), denn er, der Vielen ein Voltaire ist, erscheint hier als erster
christlicher Philosoph. Er, der die Kirchenväter kannte, erneuerte zugleich das
Problem der Philosophie der Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechts.
Herder folgt darin, sieht aber weniger wie Lessing einen ethischen Proceß in
der Erziehung als einen Naturproceß; damit arbeitet er der Schelling'schen
Naturphilosophie vor. Die Geschichte wird dabei Natur, und die Natur wird
Geschichte. Herder stellt auch zuerst, im Hinblick auf den Magneten, das Ge¬
setz der Polarität auf, das nachher in der Identitätsphilosophie so große Be¬
deutung gewann; denn alle Gegensätze sollten sich dabei zu höherer Einheit
verbinden. Lessing, Herder und Jacobi hielten zugleich fester an der Wahrheit
der Thatsachen als Kant und seiue Nachfolger. Jcicobi's Bedeutung liegt be¬
sonders in seiner Polemik und dem Hinweis des individuellen Bewußtseins
gegenüber dem allgemeinen Vernunftwissen.

Der zweite Abschnitt handelt von der Grundlegung der deutschen Philo¬
sophie durch Kant; der dritte enthält ihre systematische Ausbildung zur abso¬
luten Philosophie durch Fichte, Schelling und Hegel, und der vierte die Ein¬
schränkung der absoluten Philosophie durch Schleiermacher, Herbart und Schopen¬
hauer (56). Es ist nicht möglich, der Ausführung im Einzelnen zu folgen,
nur die Gesichtspunkte sind hervorzuheben, unter denen Harms' Darstellung
gegeben.

Kant ist der originellste deutsche Denker mit der größten Ursprünglichkeit
des Denkens, weder die Alten noch die Neueren hat er studirt; nicht aus der
Geschichte der Philosophie, sondern aus der Welt- und Menschenkenntniß hat
er die Philosophie geschöpft (118). Kant wird Gründer der deutschen Philo¬
sophie durch eine neue Problemstellung. Er fragt nicht, o b Erkenntniß möglich
sei; denn um dies zu entscheiden, wird schon vorher vorausgesetzt, daß sie möglich
sei, was ein Widerspruch ist. Kant fragte, wie ist Erkenntniß möglich? Leider
unterscheidet Kant in Concession gegen die formale Logik des Aristoteles zwei
Arten von Urtheilen, analytische und synthetische; nur in den letzteren, nicht in


riß jenen Sinn verbinden. Jedes System der deutschen Philosophie documen-
tirt diesen Willen (29).

Vier Richtungen enthält diese Periode, ohne deren Unterscheidung eine
klare Vorstellung vom Ganzen und ein richtiges Urtheil nicht zu erhalten sein
wird (56). Der erste Abschnitt enthält die Anfänge der deutschen Philosophie
durch Lessing, Herder, Jacobi (58 —117). Sie verhalten sich zwar polemisch
gegen den Kritieismus, aber sie haben auch den Standpunkt des Rationalismus
überwunden und erneuern das religiöse Leben, indem sie der Orthodoxie gegen¬
über hinweisen, daß die Religion nicht nur Sache des Verstandes, sondern
auch des Herzens und des Gemüthes sei. Lessing's Schilderung ist besonders
beherzigenswert!), denn er, der Vielen ein Voltaire ist, erscheint hier als erster
christlicher Philosoph. Er, der die Kirchenväter kannte, erneuerte zugleich das
Problem der Philosophie der Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechts.
Herder folgt darin, sieht aber weniger wie Lessing einen ethischen Proceß in
der Erziehung als einen Naturproceß; damit arbeitet er der Schelling'schen
Naturphilosophie vor. Die Geschichte wird dabei Natur, und die Natur wird
Geschichte. Herder stellt auch zuerst, im Hinblick auf den Magneten, das Ge¬
setz der Polarität auf, das nachher in der Identitätsphilosophie so große Be¬
deutung gewann; denn alle Gegensätze sollten sich dabei zu höherer Einheit
verbinden. Lessing, Herder und Jacobi hielten zugleich fester an der Wahrheit
der Thatsachen als Kant und seiue Nachfolger. Jcicobi's Bedeutung liegt be¬
sonders in seiner Polemik und dem Hinweis des individuellen Bewußtseins
gegenüber dem allgemeinen Vernunftwissen.

Der zweite Abschnitt handelt von der Grundlegung der deutschen Philo¬
sophie durch Kant; der dritte enthält ihre systematische Ausbildung zur abso¬
luten Philosophie durch Fichte, Schelling und Hegel, und der vierte die Ein¬
schränkung der absoluten Philosophie durch Schleiermacher, Herbart und Schopen¬
hauer (56). Es ist nicht möglich, der Ausführung im Einzelnen zu folgen,
nur die Gesichtspunkte sind hervorzuheben, unter denen Harms' Darstellung
gegeben.

Kant ist der originellste deutsche Denker mit der größten Ursprünglichkeit
des Denkens, weder die Alten noch die Neueren hat er studirt; nicht aus der
Geschichte der Philosophie, sondern aus der Welt- und Menschenkenntniß hat
er die Philosophie geschöpft (118). Kant wird Gründer der deutschen Philo¬
sophie durch eine neue Problemstellung. Er fragt nicht, o b Erkenntniß möglich
sei; denn um dies zu entscheiden, wird schon vorher vorausgesetzt, daß sie möglich
sei, was ein Widerspruch ist. Kant fragte, wie ist Erkenntniß möglich? Leider
unterscheidet Kant in Concession gegen die formale Logik des Aristoteles zwei
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/175>, abgerufen am 23.07.2024.