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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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statten. Der Glaube soll zum Schauen werden. Daher ist alle Wissenschafts¬
bildung anfangs theologisch und geht erst später von der Geistlichkeit an andere
Stände über. Drei neue Probleme treten auf. 1) In der Metaphysik im
Gegensatz zur Evolution der Griechen und Emanation der Orientalen die Lehre
von der Schöpfung; wobei es lächerlich ist, nicht zu wissen, daß der Ausdruck
"Schöpfung aus Nichts" heißen will: "Schöpfung aus Gott". Er hat nur
polemische Bedeutung gegenüber dem Dualismus des Aristoteles, der die Welt
aus einer Materie entstehen ließ, die neben Gott seit Ewigkeit existirt haben
soll. 2) In der Ethik tritt das Problem der Philosophie der Geschichte ans.
Die Griechen kannten nur Griechen und Barbaren, statt dieses bornirt nationalen
Standpunktes tritt jetzt der universelle auf. Die Kirchenväter beginnen die
Geschichte der Völker im Zusammenhang zu betrachten, und fassen, was Lessing
erneuert, die Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechtes durch göttliche
Offenbarung auf. 3) In der Logik tritt die Frage nach der Stellung des
Glaubens zum Wissen auf. Die Griechen hatten gesagt, aus dein Wissen folgt
das wahre Leben. Jetzt heißt es, aus dem wahren Leben folgt die Erkenntniß;
der Glaube geht dem Wissen, die Erfahrung der Erkenntniß vorher, nur durch
unser persönliches Wollen und Leben können wir zur richtigen Erkenntniß ge¬
langen. Hiermit erhält anch der Wille eine andere Bedeutung wie bei den
Griechen, die alles nur nach den Ideen der Vernunft betrachteten. Die Freiheit
des Willens wird jetzt Problem, und damit gewinnt die physische und die
ethische Weltansicht ihre Begründung. Erst mit dem Zerfall der Scholastik,
als eine Folge von Scepticismus und Mysticismus, kommt eine zweite Ansicht
auf, nämlich daß der Glaube zur Ergänzung des Wissens diene. (31--37.)

Diese neueuropäische Philosophie zerfüllt wieder in drei Perioden. Die
erste, die Zeit der Patristiker und Scholastiker, enthält die Wissenschaft in ein¬
seitig theologischer Richtung; alles ist hier der Theologie untergeordnet (26, 27).
In Deutschland gründet in dieser Zeit Victor von Se. Hugo die beschau¬
liche Betrachtung mit einer psychologischen Richtung, die später Cartesius
entschiedener geltend machte; er ist Gründer des Mysticismus, ein Norddeutscher
und repräsentirt den Platonismus im Mittelalter. Der Süddeutsche Albert
der Große, Graf von Bollstüdt dagegen vertritt den Aristoteles. Ihnen schließen
sich die deutschen Predigermönche an, die den Mysticismus erneuern und durch
Anwendung der deutschen Sprache in der Wissenschaft zugleich den Zwiespalt
zwischen Volksbewußtsein und Wissenschaft aufzuheben streben. (3. 4).

Die zweite Periode geht von der Wiederherstellung der Wissenschaften bis
zu Kant; sie umfaßt die Geschichte der Philosophie in einseitiger naturalistischer
Richtung (26). Der eigenthümliche Charakter dieser Zeit liegt in der Grün¬
dung der mechanischen Naturwissenschaft und der Extension ihrer Erklärungsart


statten. Der Glaube soll zum Schauen werden. Daher ist alle Wissenschafts¬
bildung anfangs theologisch und geht erst später von der Geistlichkeit an andere
Stände über. Drei neue Probleme treten auf. 1) In der Metaphysik im
Gegensatz zur Evolution der Griechen und Emanation der Orientalen die Lehre
von der Schöpfung; wobei es lächerlich ist, nicht zu wissen, daß der Ausdruck
„Schöpfung aus Nichts" heißen will: „Schöpfung aus Gott". Er hat nur
polemische Bedeutung gegenüber dem Dualismus des Aristoteles, der die Welt
aus einer Materie entstehen ließ, die neben Gott seit Ewigkeit existirt haben
soll. 2) In der Ethik tritt das Problem der Philosophie der Geschichte ans.
Die Griechen kannten nur Griechen und Barbaren, statt dieses bornirt nationalen
Standpunktes tritt jetzt der universelle auf. Die Kirchenväter beginnen die
Geschichte der Völker im Zusammenhang zu betrachten, und fassen, was Lessing
erneuert, die Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechtes durch göttliche
Offenbarung auf. 3) In der Logik tritt die Frage nach der Stellung des
Glaubens zum Wissen auf. Die Griechen hatten gesagt, aus dein Wissen folgt
das wahre Leben. Jetzt heißt es, aus dem wahren Leben folgt die Erkenntniß;
der Glaube geht dem Wissen, die Erfahrung der Erkenntniß vorher, nur durch
unser persönliches Wollen und Leben können wir zur richtigen Erkenntniß ge¬
langen. Hiermit erhält anch der Wille eine andere Bedeutung wie bei den
Griechen, die alles nur nach den Ideen der Vernunft betrachteten. Die Freiheit
des Willens wird jetzt Problem, und damit gewinnt die physische und die
ethische Weltansicht ihre Begründung. Erst mit dem Zerfall der Scholastik,
als eine Folge von Scepticismus und Mysticismus, kommt eine zweite Ansicht
auf, nämlich daß der Glaube zur Ergänzung des Wissens diene. (31—37.)

Diese neueuropäische Philosophie zerfüllt wieder in drei Perioden. Die
erste, die Zeit der Patristiker und Scholastiker, enthält die Wissenschaft in ein¬
seitig theologischer Richtung; alles ist hier der Theologie untergeordnet (26, 27).
In Deutschland gründet in dieser Zeit Victor von Se. Hugo die beschau¬
liche Betrachtung mit einer psychologischen Richtung, die später Cartesius
entschiedener geltend machte; er ist Gründer des Mysticismus, ein Norddeutscher
und repräsentirt den Platonismus im Mittelalter. Der Süddeutsche Albert
der Große, Graf von Bollstüdt dagegen vertritt den Aristoteles. Ihnen schließen
sich die deutschen Predigermönche an, die den Mysticismus erneuern und durch
Anwendung der deutschen Sprache in der Wissenschaft zugleich den Zwiespalt
zwischen Volksbewußtsein und Wissenschaft aufzuheben streben. (3. 4).

Die zweite Periode geht von der Wiederherstellung der Wissenschaften bis
zu Kant; sie umfaßt die Geschichte der Philosophie in einseitiger naturalistischer
Richtung (26). Der eigenthümliche Charakter dieser Zeit liegt in der Grün¬
dung der mechanischen Naturwissenschaft und der Extension ihrer Erklärungsart


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[0171] statten. Der Glaube soll zum Schauen werden. Daher ist alle Wissenschafts¬ bildung anfangs theologisch und geht erst später von der Geistlichkeit an andere Stände über. Drei neue Probleme treten auf. 1) In der Metaphysik im Gegensatz zur Evolution der Griechen und Emanation der Orientalen die Lehre von der Schöpfung; wobei es lächerlich ist, nicht zu wissen, daß der Ausdruck „Schöpfung aus Nichts" heißen will: „Schöpfung aus Gott". Er hat nur polemische Bedeutung gegenüber dem Dualismus des Aristoteles, der die Welt aus einer Materie entstehen ließ, die neben Gott seit Ewigkeit existirt haben soll. 2) In der Ethik tritt das Problem der Philosophie der Geschichte ans. Die Griechen kannten nur Griechen und Barbaren, statt dieses bornirt nationalen Standpunktes tritt jetzt der universelle auf. Die Kirchenväter beginnen die Geschichte der Völker im Zusammenhang zu betrachten, und fassen, was Lessing erneuert, die Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechtes durch göttliche Offenbarung auf. 3) In der Logik tritt die Frage nach der Stellung des Glaubens zum Wissen auf. Die Griechen hatten gesagt, aus dein Wissen folgt das wahre Leben. Jetzt heißt es, aus dem wahren Leben folgt die Erkenntniß; der Glaube geht dem Wissen, die Erfahrung der Erkenntniß vorher, nur durch unser persönliches Wollen und Leben können wir zur richtigen Erkenntniß ge¬ langen. Hiermit erhält anch der Wille eine andere Bedeutung wie bei den Griechen, die alles nur nach den Ideen der Vernunft betrachteten. Die Freiheit des Willens wird jetzt Problem, und damit gewinnt die physische und die ethische Weltansicht ihre Begründung. Erst mit dem Zerfall der Scholastik, als eine Folge von Scepticismus und Mysticismus, kommt eine zweite Ansicht auf, nämlich daß der Glaube zur Ergänzung des Wissens diene. (31—37.) Diese neueuropäische Philosophie zerfüllt wieder in drei Perioden. Die erste, die Zeit der Patristiker und Scholastiker, enthält die Wissenschaft in ein¬ seitig theologischer Richtung; alles ist hier der Theologie untergeordnet (26, 27). In Deutschland gründet in dieser Zeit Victor von Se. Hugo die beschau¬ liche Betrachtung mit einer psychologischen Richtung, die später Cartesius entschiedener geltend machte; er ist Gründer des Mysticismus, ein Norddeutscher und repräsentirt den Platonismus im Mittelalter. Der Süddeutsche Albert der Große, Graf von Bollstüdt dagegen vertritt den Aristoteles. Ihnen schließen sich die deutschen Predigermönche an, die den Mysticismus erneuern und durch Anwendung der deutschen Sprache in der Wissenschaft zugleich den Zwiespalt zwischen Volksbewußtsein und Wissenschaft aufzuheben streben. (3. 4). Die zweite Periode geht von der Wiederherstellung der Wissenschaften bis zu Kant; sie umfaßt die Geschichte der Philosophie in einseitiger naturalistischer Richtung (26). Der eigenthümliche Charakter dieser Zeit liegt in der Grün¬ dung der mechanischen Naturwissenschaft und der Extension ihrer Erklärungsart

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/171>, abgerufen am 23.07.2024.