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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Und keine Partei war hochmüthiger und unduldsamer in den Wahlkcunpf ein¬
getreten als sie. Ueberall suchte sie in rein nationale Wahlbezirke ihre Candi-
daten einzuschmuggeln. Die Stadt Leipzig wurde bereits vor acht Monaten
dnrch ein Manifest der fortschrittlichen Localvorsehung überrascht, in welchem
diejenigen mit dem Zeugniß politischer Unreife bestraft wurden, welche den
weiland designirter, aber durch unvorhergesehene Hindernisse unernannt ge¬
bliebenen Justizminister Friedrichs des sachter von Augustenburg, Herrn Professor
Hänel in Kiel, nicht zum Abgeordneten für Leipzig wählen würden. Offenbar
gingen die Freunde dieser Kandidatur von der Ansicht aus, daß dieselbe durch
längeres Liegen besser werde. In Annaberg-Buchholz tauchte noch in den
letzten Tagen vor der Wahl die fortschrittliche Candidatur eines gewissen
Dr. Taunert aus Leipzig auf, der feine politische Bedeutung im Wahlkreise
selbst colportirte und dieser entsprechend es am Wahltage auf die erdrückende
Minorität von 283 Stimmen brachte. Im ersten Lausitzer Wahlkreis wünschten
englische Capitalisten den Director ihrer Fabrik, behufs besserer Notirung ihrer
Werthe in Bradford, mit einem deutschen Reichstagsmandat versehen; dieser
Herr stand auch nicht an, sämmtlichen Gewerben seines Kreises, jedem einzeln,
bessere Lebensbedingungen, bei seiner Wahl, mit Hülfe fabelhafter Schutzzölle
zuzusichern -- und die Sächsische Fortschrittspartei proclamirte ihn als ihren
Candidaten. Im achtzehnten Wahlkreis intriguirten einige helle Fortschritts¬
geister noch im letzten Augenblick für Schaffrath gegen Gensel; daß der So¬
cialist nicht zum Siege gelangte, war nicht ihr Verdienst. Aber diese ungeschickte
und spaßhafte Selbstüberhebung will noch wenig bedeuten gegen die maßlose
Dreistigkeit und Unanständigkeit, mit der die Sächsische Fortschrittspartei den
Wahlkamps gegen die Nationalliberalen eröffnete und zu Ende führte. Kein
Wort der Verachtung gegen die nationalen ist ungesprochen und ungeschrieben
geblieben, als das Compromiß über die Justizgesetze geschlossen war. In der
gemeinsten Weise wurde persönlich geschmäht und verleumdet, namentlich der
höchst ehrenwerthe or. Stephani durch die fortschrittliche Presse beschimpft.
Der große Eugen Richter wurde nach Leipzig verschrieben, um "die Hochburg
des Nationalliberalismus zu stürmen", und erntete den Jubel der zur Messe
anwesenden Berliner Fortschrittler. Der lyrische Versuchspolitiker Herr Findel,
der seit 1866 bis 1875 zur nationalen Partei und von da an zur Fortschritts¬
partei sich zählte, erklärte in einer seiner Reden, ganz Sachsen sei eigentlich
fortschrittlich, die Wahl der Nationalliberalen sei bisher nur aus Mißverständniß
der Wähler erfolgt. Und der innerhalb des Weichbildes von Leipzig Einigen
bekannte "Führer", Herr Advocat Francke, erklärte in einer öffentlichen Ver¬
sammlung: in politischer Hinsicht stehe der Fortschritt ans dem Boden der
Socialdemokratie.


Und keine Partei war hochmüthiger und unduldsamer in den Wahlkcunpf ein¬
getreten als sie. Ueberall suchte sie in rein nationale Wahlbezirke ihre Candi-
daten einzuschmuggeln. Die Stadt Leipzig wurde bereits vor acht Monaten
dnrch ein Manifest der fortschrittlichen Localvorsehung überrascht, in welchem
diejenigen mit dem Zeugniß politischer Unreife bestraft wurden, welche den
weiland designirter, aber durch unvorhergesehene Hindernisse unernannt ge¬
bliebenen Justizminister Friedrichs des sachter von Augustenburg, Herrn Professor
Hänel in Kiel, nicht zum Abgeordneten für Leipzig wählen würden. Offenbar
gingen die Freunde dieser Kandidatur von der Ansicht aus, daß dieselbe durch
längeres Liegen besser werde. In Annaberg-Buchholz tauchte noch in den
letzten Tagen vor der Wahl die fortschrittliche Candidatur eines gewissen
Dr. Taunert aus Leipzig auf, der feine politische Bedeutung im Wahlkreise
selbst colportirte und dieser entsprechend es am Wahltage auf die erdrückende
Minorität von 283 Stimmen brachte. Im ersten Lausitzer Wahlkreis wünschten
englische Capitalisten den Director ihrer Fabrik, behufs besserer Notirung ihrer
Werthe in Bradford, mit einem deutschen Reichstagsmandat versehen; dieser
Herr stand auch nicht an, sämmtlichen Gewerben seines Kreises, jedem einzeln,
bessere Lebensbedingungen, bei seiner Wahl, mit Hülfe fabelhafter Schutzzölle
zuzusichern — und die Sächsische Fortschrittspartei proclamirte ihn als ihren
Candidaten. Im achtzehnten Wahlkreis intriguirten einige helle Fortschritts¬
geister noch im letzten Augenblick für Schaffrath gegen Gensel; daß der So¬
cialist nicht zum Siege gelangte, war nicht ihr Verdienst. Aber diese ungeschickte
und spaßhafte Selbstüberhebung will noch wenig bedeuten gegen die maßlose
Dreistigkeit und Unanständigkeit, mit der die Sächsische Fortschrittspartei den
Wahlkamps gegen die Nationalliberalen eröffnete und zu Ende führte. Kein
Wort der Verachtung gegen die nationalen ist ungesprochen und ungeschrieben
geblieben, als das Compromiß über die Justizgesetze geschlossen war. In der
gemeinsten Weise wurde persönlich geschmäht und verleumdet, namentlich der
höchst ehrenwerthe or. Stephani durch die fortschrittliche Presse beschimpft.
Der große Eugen Richter wurde nach Leipzig verschrieben, um „die Hochburg
des Nationalliberalismus zu stürmen", und erntete den Jubel der zur Messe
anwesenden Berliner Fortschrittler. Der lyrische Versuchspolitiker Herr Findel,
der seit 1866 bis 1875 zur nationalen Partei und von da an zur Fortschritts¬
partei sich zählte, erklärte in einer seiner Reden, ganz Sachsen sei eigentlich
fortschrittlich, die Wahl der Nationalliberalen sei bisher nur aus Mißverständniß
der Wähler erfolgt. Und der innerhalb des Weichbildes von Leipzig Einigen
bekannte „Führer", Herr Advocat Francke, erklärte in einer öffentlichen Ver¬
sammlung: in politischer Hinsicht stehe der Fortschritt ans dem Boden der
Socialdemokratie.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/166>, abgerufen am 23.07.2024.