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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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dauernder Gewinn erwachsen kann. Bei dieser führt es zu fortwährendem Auf¬
stellen und Zurücknehmen provisorischer Hypothesen.*) Die Geschichtswissen¬
schaft andrerseits kann den durch einen solchen Proceß zu Stande gekommenen
Resultaten der Assyriologie nicht den Grad objectiver Wahrheit und Unum-
stößlichkeit zuerkennen, den sie fordern muß,, ehe sie mit ihnen wie mit über¬
lieferten Thatsachen operiren kann."

"Ob der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Resultate einer Entzifferung
für die Geschichte ohne Weiteres verwendbar werden, darüber hat nicht die
Ungeduld des Entzifferers, nicht das Entzücken der Dilettanten, sondern einzig
und allein der Takt des Historikers zu entscheiden. In der Entzifferung der
cyprischen Inschriften, die jetzt vollendet ist, waren die Hauptschwierigkeiten
bereits überwunden, als man noch in der größten Inschrift von Idalion einen
Pachteontract erkennen konnte, während sie ein Decret zu Gunsten eines Mili¬
tärarztes ist. Keiner ihrer Entzifferer hat aber nach Art der Asfyriologen an
die griechische Geschichtsschreibung das seltsame Ansinnen gestellt, sie solle sich
den Inhalt jener provisorischen Entzifferungen einfach als Thatsachen aneignen.
Und doch stand es selbst um jene provisorischen Entzifferungen der cyprischen
Inschriften, deren Sprache bekannt war, erheblich bester als um die assyrischen
auf ihrem heutigen Stande."

Schrader behauptet, daß "alle Inschriften oder Abschnitte von Inschriften,
in denen in einfach historischer Darstellung äußere, insonderheit politische und
kriegerische Ereignisse berichtet werden, als völlig entziffert und gelesen betrachtet
werden können." Aber selbst bei diesen verhältnißmäßig leicht'zu verstehenden In¬
schriften findet, wie v. Gutschmid an mehreren Beispielen darthut, "sobald sie
sich etwas von der Heerstraße der durch Nennung biblischer Namen berühmt
gewordenen und bis zum Ueberdrusse immer wieder von Neuem übersetzten und
besprochenen Paradetexte entfernen, bei einer gewissen Uebereinstimmung in den
allgemeinsten Umrissen doch in allem Detail ein solches Auseinandergehen in
den Uebersetzungen der verschiedenen Assyriolvgen statt, daß oft kaum noch von
einem Verstehen, sondern nur von einem nachempfinden des Inhalts die Rede
sein kann." Eines der v. Gutschmidschen Beispielen wird dieß deutlicher machen.
Es ist die sogemnnte assyrische Verwaltuugsliste, "das Alpha und Omega
jeder historischen und chronologischen Forschung über das alte Assyrien", nach
den drei Uebersetzungen von Oppert, 1869, von Schrader, 1872, und G.
Smith, 1875 erschienen. In dem ersten Stücke finden wir folgende Ab¬
weichungen:



*) Daß ein König, der gestern Hulichus hieß, heute in Binlichis umgetauft wird, morgen
aber Vulnirari und in vier Wochen Binnirar sich nennen wird, um sich nach einem halben
Jahre als Nimmonnirar uns vorzustellen, ist lange nicht das Schlimmste dabei.

dauernder Gewinn erwachsen kann. Bei dieser führt es zu fortwährendem Auf¬
stellen und Zurücknehmen provisorischer Hypothesen.*) Die Geschichtswissen¬
schaft andrerseits kann den durch einen solchen Proceß zu Stande gekommenen
Resultaten der Assyriologie nicht den Grad objectiver Wahrheit und Unum-
stößlichkeit zuerkennen, den sie fordern muß,, ehe sie mit ihnen wie mit über¬
lieferten Thatsachen operiren kann."

„Ob der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Resultate einer Entzifferung
für die Geschichte ohne Weiteres verwendbar werden, darüber hat nicht die
Ungeduld des Entzifferers, nicht das Entzücken der Dilettanten, sondern einzig
und allein der Takt des Historikers zu entscheiden. In der Entzifferung der
cyprischen Inschriften, die jetzt vollendet ist, waren die Hauptschwierigkeiten
bereits überwunden, als man noch in der größten Inschrift von Idalion einen
Pachteontract erkennen konnte, während sie ein Decret zu Gunsten eines Mili¬
tärarztes ist. Keiner ihrer Entzifferer hat aber nach Art der Asfyriologen an
die griechische Geschichtsschreibung das seltsame Ansinnen gestellt, sie solle sich
den Inhalt jener provisorischen Entzifferungen einfach als Thatsachen aneignen.
Und doch stand es selbst um jene provisorischen Entzifferungen der cyprischen
Inschriften, deren Sprache bekannt war, erheblich bester als um die assyrischen
auf ihrem heutigen Stande."

Schrader behauptet, daß „alle Inschriften oder Abschnitte von Inschriften,
in denen in einfach historischer Darstellung äußere, insonderheit politische und
kriegerische Ereignisse berichtet werden, als völlig entziffert und gelesen betrachtet
werden können." Aber selbst bei diesen verhältnißmäßig leicht'zu verstehenden In¬
schriften findet, wie v. Gutschmid an mehreren Beispielen darthut, „sobald sie
sich etwas von der Heerstraße der durch Nennung biblischer Namen berühmt
gewordenen und bis zum Ueberdrusse immer wieder von Neuem übersetzten und
besprochenen Paradetexte entfernen, bei einer gewissen Uebereinstimmung in den
allgemeinsten Umrissen doch in allem Detail ein solches Auseinandergehen in
den Uebersetzungen der verschiedenen Assyriolvgen statt, daß oft kaum noch von
einem Verstehen, sondern nur von einem nachempfinden des Inhalts die Rede
sein kann." Eines der v. Gutschmidschen Beispielen wird dieß deutlicher machen.
Es ist die sogemnnte assyrische Verwaltuugsliste, „das Alpha und Omega
jeder historischen und chronologischen Forschung über das alte Assyrien", nach
den drei Uebersetzungen von Oppert, 1869, von Schrader, 1872, und G.
Smith, 1875 erschienen. In dem ersten Stücke finden wir folgende Ab¬
weichungen:



*) Daß ein König, der gestern Hulichus hieß, heute in Binlichis umgetauft wird, morgen
aber Vulnirari und in vier Wochen Binnirar sich nennen wird, um sich nach einem halben
Jahre als Nimmonnirar uns vorzustellen, ist lange nicht das Schlimmste dabei.
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[0135] dauernder Gewinn erwachsen kann. Bei dieser führt es zu fortwährendem Auf¬ stellen und Zurücknehmen provisorischer Hypothesen.*) Die Geschichtswissen¬ schaft andrerseits kann den durch einen solchen Proceß zu Stande gekommenen Resultaten der Assyriologie nicht den Grad objectiver Wahrheit und Unum- stößlichkeit zuerkennen, den sie fordern muß,, ehe sie mit ihnen wie mit über¬ lieferten Thatsachen operiren kann." „Ob der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Resultate einer Entzifferung für die Geschichte ohne Weiteres verwendbar werden, darüber hat nicht die Ungeduld des Entzifferers, nicht das Entzücken der Dilettanten, sondern einzig und allein der Takt des Historikers zu entscheiden. In der Entzifferung der cyprischen Inschriften, die jetzt vollendet ist, waren die Hauptschwierigkeiten bereits überwunden, als man noch in der größten Inschrift von Idalion einen Pachteontract erkennen konnte, während sie ein Decret zu Gunsten eines Mili¬ tärarztes ist. Keiner ihrer Entzifferer hat aber nach Art der Asfyriologen an die griechische Geschichtsschreibung das seltsame Ansinnen gestellt, sie solle sich den Inhalt jener provisorischen Entzifferungen einfach als Thatsachen aneignen. Und doch stand es selbst um jene provisorischen Entzifferungen der cyprischen Inschriften, deren Sprache bekannt war, erheblich bester als um die assyrischen auf ihrem heutigen Stande." Schrader behauptet, daß „alle Inschriften oder Abschnitte von Inschriften, in denen in einfach historischer Darstellung äußere, insonderheit politische und kriegerische Ereignisse berichtet werden, als völlig entziffert und gelesen betrachtet werden können." Aber selbst bei diesen verhältnißmäßig leicht'zu verstehenden In¬ schriften findet, wie v. Gutschmid an mehreren Beispielen darthut, „sobald sie sich etwas von der Heerstraße der durch Nennung biblischer Namen berühmt gewordenen und bis zum Ueberdrusse immer wieder von Neuem übersetzten und besprochenen Paradetexte entfernen, bei einer gewissen Uebereinstimmung in den allgemeinsten Umrissen doch in allem Detail ein solches Auseinandergehen in den Uebersetzungen der verschiedenen Assyriolvgen statt, daß oft kaum noch von einem Verstehen, sondern nur von einem nachempfinden des Inhalts die Rede sein kann." Eines der v. Gutschmidschen Beispielen wird dieß deutlicher machen. Es ist die sogemnnte assyrische Verwaltuugsliste, „das Alpha und Omega jeder historischen und chronologischen Forschung über das alte Assyrien", nach den drei Uebersetzungen von Oppert, 1869, von Schrader, 1872, und G. Smith, 1875 erschienen. In dem ersten Stücke finden wir folgende Ab¬ weichungen: *) Daß ein König, der gestern Hulichus hieß, heute in Binlichis umgetauft wird, morgen aber Vulnirari und in vier Wochen Binnirar sich nennen wird, um sich nach einem halben Jahre als Nimmonnirar uns vorzustellen, ist lange nicht das Schlimmste dabei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/135>, abgerufen am 23.07.2024.