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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Die einzige ernstliche Hülfe gewährt das phonetische Complement, dessen
Wesen darin besteht, daß dem Ideogramme eine oder mehr Sylben angehängt
werden, welche den Ausgang des durch das Ideogramm vertretenen Wortes
bilden.

"Trotz aller dieser Schwierigkeiten", meint Schrader, "dürfen wir uns
nicht verhehlen, daß derartige Fälle (in denen außerordentlich schwer zu ent¬
scheiden ist, ob wir Ideogramme oder phonetisch geschriebene Wörter vor uns
haben) doch nur Ausnahmsfälle sind, und sind die betreffenden Wörter oder
Ideogramme nicht Hapaxlegomena, so gelingt es früher oder später fast immer,
ihrer wahren Natur auf den Grund zu kommen." Und an einer anderen
Stelle sagt er: "Die Anzahl der Ideogramme ist eine bei der Durchforschung
neuer Documente stets wachsende, insofern unbegrenzte."

Mit vollem Rechte bemerkt hiergegen v. Gutschmid: "Für den Assyrivlogen
mag ein solcher Wechsel auf die Zukunft etwas recht Tröstliches haben; uns
aber, an welche die Zumuthung gestellt wird, die Ergebnisse, welche die Assyriv¬
logen für sicher erkläre", in Bausch und Bogen als sicher hinzunehmen, geht
lediglich die Frage an nach dem Grade von Sicherheit, den die Entzifferung
auf ihrem heutigen Stande beanspruchen darf, und bei der Entscheidung
dieser Frage kann uns nach den bisher gemachten Erfahrungen der dehnbare
Begriff "Ausnahmsfälle" im Munde eines Apologeten nur mäßige Beruhigung
einflößen, muß uns vielmehr der Eindruck beschleichen, daß gerade hier uoch
Alles im Flusse, daß die Entzifferung gerade hier von einem auch nur vor¬
läufigen Abschlüsse, der ersten Vorbedingung eines wirklich sicheren Verständ¬
nisses, noch recht weit entfernt ist."

Der größte Uebelstand, dem der Entzifferer assyrischer Inschriften begegnet,
ist und bleibt die Polyphonie, die es mit sich bringt, daß er fast immer zwischen
zwei, oft zwischen drei und vier, bisweilen sogar zwischen neun Möglichkeiten
die Wahl hat. Sein Thun bekommt dadurch etwas subjectives, wie dieß bei
keiner andern Arbeit der Art der Fall ist. Daß die Grundlagen zur Ent¬
zifferung durch Oppert gelegt sind, gesteht v. Gutschmid zu, d. h. er erkennt
an, "daß das Sylläbar im Ganzen und Großen festgestellt ist und die Möglich¬
keiten, welche infolge der Polyphonie und der ideographischen Natur der assy¬
rischen Schrift in jedem einzelnen Falle eintreten können, ermittelt sind." "Die
Deutung des Entzifferten aber", so fährt er fort, "welche in jedem Augenblick
auf die Basis der Entzifferung selbst zu recurriren bereit fein muß, diese ist
es, in welcher die wahre Schwierigkeit steckt, diese, deren Sicherheit ich bestritten
habe und zu bestreikn fortfahre."

Welche Hülfsmittel aber stehen hier dem Assyrivlogen zu Gebote? Sebra-


Die einzige ernstliche Hülfe gewährt das phonetische Complement, dessen
Wesen darin besteht, daß dem Ideogramme eine oder mehr Sylben angehängt
werden, welche den Ausgang des durch das Ideogramm vertretenen Wortes
bilden.

„Trotz aller dieser Schwierigkeiten", meint Schrader, „dürfen wir uns
nicht verhehlen, daß derartige Fälle (in denen außerordentlich schwer zu ent¬
scheiden ist, ob wir Ideogramme oder phonetisch geschriebene Wörter vor uns
haben) doch nur Ausnahmsfälle sind, und sind die betreffenden Wörter oder
Ideogramme nicht Hapaxlegomena, so gelingt es früher oder später fast immer,
ihrer wahren Natur auf den Grund zu kommen." Und an einer anderen
Stelle sagt er: „Die Anzahl der Ideogramme ist eine bei der Durchforschung
neuer Documente stets wachsende, insofern unbegrenzte."

Mit vollem Rechte bemerkt hiergegen v. Gutschmid: „Für den Assyrivlogen
mag ein solcher Wechsel auf die Zukunft etwas recht Tröstliches haben; uns
aber, an welche die Zumuthung gestellt wird, die Ergebnisse, welche die Assyriv¬
logen für sicher erkläre«, in Bausch und Bogen als sicher hinzunehmen, geht
lediglich die Frage an nach dem Grade von Sicherheit, den die Entzifferung
auf ihrem heutigen Stande beanspruchen darf, und bei der Entscheidung
dieser Frage kann uns nach den bisher gemachten Erfahrungen der dehnbare
Begriff „Ausnahmsfälle" im Munde eines Apologeten nur mäßige Beruhigung
einflößen, muß uns vielmehr der Eindruck beschleichen, daß gerade hier uoch
Alles im Flusse, daß die Entzifferung gerade hier von einem auch nur vor¬
läufigen Abschlüsse, der ersten Vorbedingung eines wirklich sicheren Verständ¬
nisses, noch recht weit entfernt ist."

Der größte Uebelstand, dem der Entzifferer assyrischer Inschriften begegnet,
ist und bleibt die Polyphonie, die es mit sich bringt, daß er fast immer zwischen
zwei, oft zwischen drei und vier, bisweilen sogar zwischen neun Möglichkeiten
die Wahl hat. Sein Thun bekommt dadurch etwas subjectives, wie dieß bei
keiner andern Arbeit der Art der Fall ist. Daß die Grundlagen zur Ent¬
zifferung durch Oppert gelegt sind, gesteht v. Gutschmid zu, d. h. er erkennt
an, „daß das Sylläbar im Ganzen und Großen festgestellt ist und die Möglich¬
keiten, welche infolge der Polyphonie und der ideographischen Natur der assy¬
rischen Schrift in jedem einzelnen Falle eintreten können, ermittelt sind." „Die
Deutung des Entzifferten aber", so fährt er fort, „welche in jedem Augenblick
auf die Basis der Entzifferung selbst zu recurriren bereit fein muß, diese ist
es, in welcher die wahre Schwierigkeit steckt, diese, deren Sicherheit ich bestritten
habe und zu bestreikn fortfahre."

Welche Hülfsmittel aber stehen hier dem Assyrivlogen zu Gebote? Sebra-


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[0133] Die einzige ernstliche Hülfe gewährt das phonetische Complement, dessen Wesen darin besteht, daß dem Ideogramme eine oder mehr Sylben angehängt werden, welche den Ausgang des durch das Ideogramm vertretenen Wortes bilden. „Trotz aller dieser Schwierigkeiten", meint Schrader, „dürfen wir uns nicht verhehlen, daß derartige Fälle (in denen außerordentlich schwer zu ent¬ scheiden ist, ob wir Ideogramme oder phonetisch geschriebene Wörter vor uns haben) doch nur Ausnahmsfälle sind, und sind die betreffenden Wörter oder Ideogramme nicht Hapaxlegomena, so gelingt es früher oder später fast immer, ihrer wahren Natur auf den Grund zu kommen." Und an einer anderen Stelle sagt er: „Die Anzahl der Ideogramme ist eine bei der Durchforschung neuer Documente stets wachsende, insofern unbegrenzte." Mit vollem Rechte bemerkt hiergegen v. Gutschmid: „Für den Assyrivlogen mag ein solcher Wechsel auf die Zukunft etwas recht Tröstliches haben; uns aber, an welche die Zumuthung gestellt wird, die Ergebnisse, welche die Assyriv¬ logen für sicher erkläre«, in Bausch und Bogen als sicher hinzunehmen, geht lediglich die Frage an nach dem Grade von Sicherheit, den die Entzifferung auf ihrem heutigen Stande beanspruchen darf, und bei der Entscheidung dieser Frage kann uns nach den bisher gemachten Erfahrungen der dehnbare Begriff „Ausnahmsfälle" im Munde eines Apologeten nur mäßige Beruhigung einflößen, muß uns vielmehr der Eindruck beschleichen, daß gerade hier uoch Alles im Flusse, daß die Entzifferung gerade hier von einem auch nur vor¬ läufigen Abschlüsse, der ersten Vorbedingung eines wirklich sicheren Verständ¬ nisses, noch recht weit entfernt ist." Der größte Uebelstand, dem der Entzifferer assyrischer Inschriften begegnet, ist und bleibt die Polyphonie, die es mit sich bringt, daß er fast immer zwischen zwei, oft zwischen drei und vier, bisweilen sogar zwischen neun Möglichkeiten die Wahl hat. Sein Thun bekommt dadurch etwas subjectives, wie dieß bei keiner andern Arbeit der Art der Fall ist. Daß die Grundlagen zur Ent¬ zifferung durch Oppert gelegt sind, gesteht v. Gutschmid zu, d. h. er erkennt an, „daß das Sylläbar im Ganzen und Großen festgestellt ist und die Möglich¬ keiten, welche infolge der Polyphonie und der ideographischen Natur der assy¬ rischen Schrift in jedem einzelnen Falle eintreten können, ermittelt sind." „Die Deutung des Entzifferten aber", so fährt er fort, „welche in jedem Augenblick auf die Basis der Entzifferung selbst zu recurriren bereit fein muß, diese ist es, in welcher die wahre Schwierigkeit steckt, diese, deren Sicherheit ich bestritten habe und zu bestreikn fortfahre." Welche Hülfsmittel aber stehen hier dem Assyrivlogen zu Gebote? Sebra-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/133>, abgerufen am 23.07.2024.