Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Einfluß im Norden seiner Besitzungen geltend zu machen. Su choim Jahre
1843 versuchte England über den Indus zu gehen, um den Russen am Hin¬
dukusch zuvorzukommen. Im Jahre 1857 schloß es einen Vertrag mit dem Emir
von Kabul, in welchem es sich zur jährlichen Zahlung von 120,000 Pfund Ster¬
ling verpflichtete, wenn der Emir eine Armee von 10,000 Mann hielte, die
zum Widerstande gegen die Russen geeignet wäre. Später kam England dann
auf die Idee, durch directe Verhandlungen mit Rußland zwischen den russischen
und englischen Besitzungen in Asien ein neutrales Gebiet zu constituiren, das
eine direkte Berührung beider Reiche verhindern solle. Die bezüglichen Ver¬
handlungen begannen kurz vor dein Chilva-Kriege. Afghanistan schien diesem
Zwecke zu entsprechen, und deshalb einigten sich beide Regierungen darüber,
ihren ganzen Einfluß auf die benachbarten Staaten zu verwenden, und jede
Berührung oder Schwächung dieser Zwischenzone zu verhindern. Bei der ge¬
nauen Abgrenzung derselben kam es aber zwischen den beiden Cabineten zu
Meinungsverschiedenheiten: Englaud bezeichnete uümlich die Provinz Badak-
schan mit Wachau als zum rechtmäßigen Besitze schir-Ali-Chans, des gegen¬
wärtigen Herrschers von Afghanistan, gehörig; -- Rußland glaubte dagegen
dem nicht beistimmen zu können. Besonders der General von Kaufman machte
geltend, daß schir-Ali keinen Anspruch auf die Provinz Badakschan zu machen
habe; der gesetzliche Herrscher sei vielmehr Dschaugir-Chan. -- Englischer Seits
suchte man nun den Beweis anzutreten, daß die Provinz Badakschan mit dem
Bezirke Wachau kraft des Erobernngsrechtes dem schir-Ali zuzusprechen sei,
zumal sich ihm anch die Häupter der Bevölkerung auf das Formellste unter¬
worfen hätten. Daraufhin erließ der Reichskanzler Fürst Gortschakow unter
dein 19. Januar 1873 eine Depesche des Inhalts: "Mit Rücksicht auf die
Schwierigkeiten, welche eine Feststellung aller Einzelheiten der Thatsachen in
diesen entfernten Ländern hat, mit Rücksicht auf die größere Bequemlichkeit,
über welche die britische Regierung in Betreff des Sammelns genauer Nach¬
richten verfügt, mit Rücksicht endlich auf unsern Wunsch, dieser, eine unbedeu¬
tende Einzelheit berührenden Frage nicht eine größere Bedeutung zu geben,
als ihr gebührt, weigern wir uns nicht, die von England vorgeschlagene Grenz¬
linie zuzulassen. Wir sind um so eher zu diesem aeto ü" eourtoisis geneigt,
als die englische Negierung sich verpflichtet, ihren ganzen Einfluß auf Schir-
Ali zu gebrauchen, um ihn zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Ent¬
haltung vou allen Angriffen oder ferneren Eroberungen zu veranlassen. Dieser
Einfluß ist unbestreitbar. Er beruht nicht blos auf der materiellen und mo¬
ralischen Ueberlegenheit Englands, sondern auch auf den Subsidien, welche
schir-Ali erhält. Unter solchen Umständen sehen wir in diesem Versprechen
eine wirkliche Garantie des Friedens." --


Einfluß im Norden seiner Besitzungen geltend zu machen. Su choim Jahre
1843 versuchte England über den Indus zu gehen, um den Russen am Hin¬
dukusch zuvorzukommen. Im Jahre 1857 schloß es einen Vertrag mit dem Emir
von Kabul, in welchem es sich zur jährlichen Zahlung von 120,000 Pfund Ster¬
ling verpflichtete, wenn der Emir eine Armee von 10,000 Mann hielte, die
zum Widerstande gegen die Russen geeignet wäre. Später kam England dann
auf die Idee, durch directe Verhandlungen mit Rußland zwischen den russischen
und englischen Besitzungen in Asien ein neutrales Gebiet zu constituiren, das
eine direkte Berührung beider Reiche verhindern solle. Die bezüglichen Ver¬
handlungen begannen kurz vor dein Chilva-Kriege. Afghanistan schien diesem
Zwecke zu entsprechen, und deshalb einigten sich beide Regierungen darüber,
ihren ganzen Einfluß auf die benachbarten Staaten zu verwenden, und jede
Berührung oder Schwächung dieser Zwischenzone zu verhindern. Bei der ge¬
nauen Abgrenzung derselben kam es aber zwischen den beiden Cabineten zu
Meinungsverschiedenheiten: Englaud bezeichnete uümlich die Provinz Badak-
schan mit Wachau als zum rechtmäßigen Besitze schir-Ali-Chans, des gegen¬
wärtigen Herrschers von Afghanistan, gehörig; — Rußland glaubte dagegen
dem nicht beistimmen zu können. Besonders der General von Kaufman machte
geltend, daß schir-Ali keinen Anspruch auf die Provinz Badakschan zu machen
habe; der gesetzliche Herrscher sei vielmehr Dschaugir-Chan. — Englischer Seits
suchte man nun den Beweis anzutreten, daß die Provinz Badakschan mit dem
Bezirke Wachau kraft des Erobernngsrechtes dem schir-Ali zuzusprechen sei,
zumal sich ihm anch die Häupter der Bevölkerung auf das Formellste unter¬
worfen hätten. Daraufhin erließ der Reichskanzler Fürst Gortschakow unter
dein 19. Januar 1873 eine Depesche des Inhalts: „Mit Rücksicht auf die
Schwierigkeiten, welche eine Feststellung aller Einzelheiten der Thatsachen in
diesen entfernten Ländern hat, mit Rücksicht auf die größere Bequemlichkeit,
über welche die britische Regierung in Betreff des Sammelns genauer Nach¬
richten verfügt, mit Rücksicht endlich auf unsern Wunsch, dieser, eine unbedeu¬
tende Einzelheit berührenden Frage nicht eine größere Bedeutung zu geben,
als ihr gebührt, weigern wir uns nicht, die von England vorgeschlagene Grenz¬
linie zuzulassen. Wir sind um so eher zu diesem aeto ü« eourtoisis geneigt,
als die englische Negierung sich verpflichtet, ihren ganzen Einfluß auf Schir-
Ali zu gebrauchen, um ihn zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Ent¬
haltung vou allen Angriffen oder ferneren Eroberungen zu veranlassen. Dieser
Einfluß ist unbestreitbar. Er beruht nicht blos auf der materiellen und mo¬
ralischen Ueberlegenheit Englands, sondern auch auf den Subsidien, welche
schir-Ali erhält. Unter solchen Umständen sehen wir in diesem Versprechen
eine wirkliche Garantie des Friedens." —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0103" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137276"/>
          <p xml:id="ID_388" prev="#ID_387"> Einfluß im Norden seiner Besitzungen geltend zu machen. Su choim Jahre<lb/>
1843 versuchte England über den Indus zu gehen, um den Russen am Hin¬<lb/>
dukusch zuvorzukommen. Im Jahre 1857 schloß es einen Vertrag mit dem Emir<lb/>
von Kabul, in welchem es sich zur jährlichen Zahlung von 120,000 Pfund Ster¬<lb/>
ling verpflichtete, wenn der Emir eine Armee von 10,000 Mann hielte, die<lb/>
zum Widerstande gegen die Russen geeignet wäre. Später kam England dann<lb/>
auf die Idee, durch directe Verhandlungen mit Rußland zwischen den russischen<lb/>
und englischen Besitzungen in Asien ein neutrales Gebiet zu constituiren, das<lb/>
eine direkte Berührung beider Reiche verhindern solle. Die bezüglichen Ver¬<lb/>
handlungen begannen kurz vor dein Chilva-Kriege. Afghanistan schien diesem<lb/>
Zwecke zu entsprechen, und deshalb einigten sich beide Regierungen darüber,<lb/>
ihren ganzen Einfluß auf die benachbarten Staaten zu verwenden, und jede<lb/>
Berührung oder Schwächung dieser Zwischenzone zu verhindern. Bei der ge¬<lb/>
nauen Abgrenzung derselben kam es aber zwischen den beiden Cabineten zu<lb/>
Meinungsverschiedenheiten: Englaud bezeichnete uümlich die Provinz Badak-<lb/>
schan mit Wachau als zum rechtmäßigen Besitze schir-Ali-Chans, des gegen¬<lb/>
wärtigen Herrschers von Afghanistan, gehörig; &#x2014; Rußland glaubte dagegen<lb/>
dem nicht beistimmen zu können. Besonders der General von Kaufman machte<lb/>
geltend, daß schir-Ali keinen Anspruch auf die Provinz Badakschan zu machen<lb/>
habe; der gesetzliche Herrscher sei vielmehr Dschaugir-Chan. &#x2014; Englischer Seits<lb/>
suchte man nun den Beweis anzutreten, daß die Provinz Badakschan mit dem<lb/>
Bezirke Wachau kraft des Erobernngsrechtes dem schir-Ali zuzusprechen sei,<lb/>
zumal sich ihm anch die Häupter der Bevölkerung auf das Formellste unter¬<lb/>
worfen hätten. Daraufhin erließ der Reichskanzler Fürst Gortschakow unter<lb/>
dein 19. Januar 1873 eine Depesche des Inhalts: &#x201E;Mit Rücksicht auf die<lb/>
Schwierigkeiten, welche eine Feststellung aller Einzelheiten der Thatsachen in<lb/>
diesen entfernten Ländern hat, mit Rücksicht auf die größere Bequemlichkeit,<lb/>
über welche die britische Regierung in Betreff des Sammelns genauer Nach¬<lb/>
richten verfügt, mit Rücksicht endlich auf unsern Wunsch, dieser, eine unbedeu¬<lb/>
tende Einzelheit berührenden Frage nicht eine größere Bedeutung zu geben,<lb/>
als ihr gebührt, weigern wir uns nicht, die von England vorgeschlagene Grenz¬<lb/>
linie zuzulassen. Wir sind um so eher zu diesem aeto ü« eourtoisis geneigt,<lb/>
als die englische Negierung sich verpflichtet, ihren ganzen Einfluß auf Schir-<lb/>
Ali zu gebrauchen, um ihn zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Ent¬<lb/>
haltung vou allen Angriffen oder ferneren Eroberungen zu veranlassen. Dieser<lb/>
Einfluß ist unbestreitbar. Er beruht nicht blos auf der materiellen und mo¬<lb/>
ralischen Ueberlegenheit Englands, sondern auch auf den Subsidien, welche<lb/>
schir-Ali erhält. Unter solchen Umständen sehen wir in diesem Versprechen<lb/>
eine wirkliche Garantie des Friedens." &#x2014;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0103] Einfluß im Norden seiner Besitzungen geltend zu machen. Su choim Jahre 1843 versuchte England über den Indus zu gehen, um den Russen am Hin¬ dukusch zuvorzukommen. Im Jahre 1857 schloß es einen Vertrag mit dem Emir von Kabul, in welchem es sich zur jährlichen Zahlung von 120,000 Pfund Ster¬ ling verpflichtete, wenn der Emir eine Armee von 10,000 Mann hielte, die zum Widerstande gegen die Russen geeignet wäre. Später kam England dann auf die Idee, durch directe Verhandlungen mit Rußland zwischen den russischen und englischen Besitzungen in Asien ein neutrales Gebiet zu constituiren, das eine direkte Berührung beider Reiche verhindern solle. Die bezüglichen Ver¬ handlungen begannen kurz vor dein Chilva-Kriege. Afghanistan schien diesem Zwecke zu entsprechen, und deshalb einigten sich beide Regierungen darüber, ihren ganzen Einfluß auf die benachbarten Staaten zu verwenden, und jede Berührung oder Schwächung dieser Zwischenzone zu verhindern. Bei der ge¬ nauen Abgrenzung derselben kam es aber zwischen den beiden Cabineten zu Meinungsverschiedenheiten: Englaud bezeichnete uümlich die Provinz Badak- schan mit Wachau als zum rechtmäßigen Besitze schir-Ali-Chans, des gegen¬ wärtigen Herrschers von Afghanistan, gehörig; — Rußland glaubte dagegen dem nicht beistimmen zu können. Besonders der General von Kaufman machte geltend, daß schir-Ali keinen Anspruch auf die Provinz Badakschan zu machen habe; der gesetzliche Herrscher sei vielmehr Dschaugir-Chan. — Englischer Seits suchte man nun den Beweis anzutreten, daß die Provinz Badakschan mit dem Bezirke Wachau kraft des Erobernngsrechtes dem schir-Ali zuzusprechen sei, zumal sich ihm anch die Häupter der Bevölkerung auf das Formellste unter¬ worfen hätten. Daraufhin erließ der Reichskanzler Fürst Gortschakow unter dein 19. Januar 1873 eine Depesche des Inhalts: „Mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten, welche eine Feststellung aller Einzelheiten der Thatsachen in diesen entfernten Ländern hat, mit Rücksicht auf die größere Bequemlichkeit, über welche die britische Regierung in Betreff des Sammelns genauer Nach¬ richten verfügt, mit Rücksicht endlich auf unsern Wunsch, dieser, eine unbedeu¬ tende Einzelheit berührenden Frage nicht eine größere Bedeutung zu geben, als ihr gebührt, weigern wir uns nicht, die von England vorgeschlagene Grenz¬ linie zuzulassen. Wir sind um so eher zu diesem aeto ü« eourtoisis geneigt, als die englische Negierung sich verpflichtet, ihren ganzen Einfluß auf Schir- Ali zu gebrauchen, um ihn zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Ent¬ haltung vou allen Angriffen oder ferneren Eroberungen zu veranlassen. Dieser Einfluß ist unbestreitbar. Er beruht nicht blos auf der materiellen und mo¬ ralischen Ueberlegenheit Englands, sondern auch auf den Subsidien, welche schir-Ali erhält. Unter solchen Umständen sehen wir in diesem Versprechen eine wirkliche Garantie des Friedens." —

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/103
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/103>, abgerufen am 23.07.2024.