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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Wieder der schweizerischen Sage ähnlicher ist die von dem Holsteiner
Henning Wulf, einem reichen Bauer zu Wewelsflet in Stormarn, der 1472
bei einer Empörung der Marschleute gegen König Christiern deren Anführer
gewesen war. Geschlagen und flüchtig, verbarg er sich in einem Sumpfe
und wurde hier durch seinen Hund, der ihm nachgelaufen war, verrathen.
Vor den König geführt, sollte er hingerichtet werden. Doch ließ Christiern,
da er wußte, daß Wulf ein trefflicher Schütze sei. dessen einziges Söhnlein
herbeiholen und befahl dem Vater höhnisch, demselben einen Apfel vom Kopfe
zu schießen; gelänge dies, so sollte der Empörer frei sein. Wulf holte seinen
Bogen, legte auf, nahm zugleich einen zweiten Pfeil zwischen die Zähne und
that glücklich den Schuß. Auf die Frage des Königs nach der Bestimmung
des zweiten Pfeils erfolgte die uns schon bekannte Drohung, worauf der
König den Schützen in die Acht erklärte und Wulf landflüchtig werden
mußte. Sein Besitz wurde mit Beschlag belegt, heißt heute noch das Königs¬
land und mußte als solches früher schwere Abgaben tragen. Dieselbe Sage
ist auch zu Nienborstel im Kirchspiel Hohenwestedt localistrt, und zwar da.
wo ehedem ein Schloß stand. Der Schütze mußte hier seinem Sohne eine
Birne vom Kopfe schießen.

Ebenfalls ein Absenker der allen diesen Erzählungen und auch der
Schweizersage zu Grunde liegenden Mythenwurzel aus der Urzeit ist die
altenglische Ballade von William of Cloudesly, einem Nachfolger Robim
Hood's, der, wie dieser mythische Geächtete im Sherwood Forest. als Wild¬
dieb in einem Walde bei Carlisle lebte, sich endlich ergab und auf die
Bitte der Königin begnadigt wurde. Um dem Könige einen Beweis seiner
^eschicklichkeit zu geben, erbot er sich von freien Stücken, seinem einzigen
siebenjährigen Sohne auf einer Entfernung von hundertundzwanzig Schritten
einen Apfel vom Kopfe zu schießen, vollbrachte das Wagstück und wurde da¬
für in die Königliche Leibgarde aufgenommen.

Noch ferner als die zuletzt erwähnte Sage steht der Erzählung vom
schweizerischen Tell die Mythe vom Riesen Tollo oder Töll, die an den
Küsten und auf den Inseln Esthlands verbreitet ist, aber aus Schweden
stammt. Sie hat mit jener allerdings den Namen des Helden, sonst aber
Nur den Weitsprung über Wasser und Fels, und Anklänge an die schließliche
Entrückung in einen Berg und den Zauberschlaf gemein, den Tell im Axen-
berge schläft. Die beiden Treffschüsse nach dem Apfel und nach dem Vogte
Und die bestandene Seefahrt im Sturme fehlen ihr. Aber diese ihr bei den
Jnselschweden mangelnden Züge treffen wir, wenn auch an einen andern
Namen geknüpft, bei den angrenzenden Finnen, sowie bei deren Nachbarn,
den Lappen, an. Im russischen Karelier wurde dem Sprachforscher Castre'n
Folgendes erzählt:


Wieder der schweizerischen Sage ähnlicher ist die von dem Holsteiner
Henning Wulf, einem reichen Bauer zu Wewelsflet in Stormarn, der 1472
bei einer Empörung der Marschleute gegen König Christiern deren Anführer
gewesen war. Geschlagen und flüchtig, verbarg er sich in einem Sumpfe
und wurde hier durch seinen Hund, der ihm nachgelaufen war, verrathen.
Vor den König geführt, sollte er hingerichtet werden. Doch ließ Christiern,
da er wußte, daß Wulf ein trefflicher Schütze sei. dessen einziges Söhnlein
herbeiholen und befahl dem Vater höhnisch, demselben einen Apfel vom Kopfe
zu schießen; gelänge dies, so sollte der Empörer frei sein. Wulf holte seinen
Bogen, legte auf, nahm zugleich einen zweiten Pfeil zwischen die Zähne und
that glücklich den Schuß. Auf die Frage des Königs nach der Bestimmung
des zweiten Pfeils erfolgte die uns schon bekannte Drohung, worauf der
König den Schützen in die Acht erklärte und Wulf landflüchtig werden
mußte. Sein Besitz wurde mit Beschlag belegt, heißt heute noch das Königs¬
land und mußte als solches früher schwere Abgaben tragen. Dieselbe Sage
ist auch zu Nienborstel im Kirchspiel Hohenwestedt localistrt, und zwar da.
wo ehedem ein Schloß stand. Der Schütze mußte hier seinem Sohne eine
Birne vom Kopfe schießen.

Ebenfalls ein Absenker der allen diesen Erzählungen und auch der
Schweizersage zu Grunde liegenden Mythenwurzel aus der Urzeit ist die
altenglische Ballade von William of Cloudesly, einem Nachfolger Robim
Hood's, der, wie dieser mythische Geächtete im Sherwood Forest. als Wild¬
dieb in einem Walde bei Carlisle lebte, sich endlich ergab und auf die
Bitte der Königin begnadigt wurde. Um dem Könige einen Beweis seiner
^eschicklichkeit zu geben, erbot er sich von freien Stücken, seinem einzigen
siebenjährigen Sohne auf einer Entfernung von hundertundzwanzig Schritten
einen Apfel vom Kopfe zu schießen, vollbrachte das Wagstück und wurde da¬
für in die Königliche Leibgarde aufgenommen.

Noch ferner als die zuletzt erwähnte Sage steht der Erzählung vom
schweizerischen Tell die Mythe vom Riesen Tollo oder Töll, die an den
Küsten und auf den Inseln Esthlands verbreitet ist, aber aus Schweden
stammt. Sie hat mit jener allerdings den Namen des Helden, sonst aber
Nur den Weitsprung über Wasser und Fels, und Anklänge an die schließliche
Entrückung in einen Berg und den Zauberschlaf gemein, den Tell im Axen-
berge schläft. Die beiden Treffschüsse nach dem Apfel und nach dem Vogte
Und die bestandene Seefahrt im Sturme fehlen ihr. Aber diese ihr bei den
Jnselschweden mangelnden Züge treffen wir, wenn auch an einen andern
Namen geknüpft, bei den angrenzenden Finnen, sowie bei deren Nachbarn,
den Lappen, an. Im russischen Karelier wurde dem Sprachforscher Castre'n
Folgendes erzählt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/91>, abgerufen am 27.09.2024.