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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Reichstag verantwortlich, oder die Regierungen, deren Bevollmächtigte den
Bundesrath bilden. Als Dilettant habe er in Wirthschaftsfragen keine vor-
gefaßte Meinung, die ihn hindern könnte, eine vom Reichstag empfohlene
Wirthschaftspolitik zur Durchführung zu bringen. --

Meines Erachtens liegt hierin eine deutliche Aufforderung, bei den bevor¬
stehenden Reichstagswahlen die Stellung der Abgeordneten zur Handels- und
Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen.

Es ist übrigens wohl anzunehmen, daß selbst mit einer freihändlerischen
Majorität im nächsten Reichstag die Frage der deutschen Handelspolitik doch
noch nicht entschieden ist. Es kann sein, daß selbst die Freihändler in er¬
heblicher Zahl sich bekehren; es kann sein, daß die Stimmung des Volkes
dermaßen gegen den bloßen Freihandel umschlägt, daß bei den Volksvertretern
Nachgiebigkeit oder Mandatsniederlegung eintritt; es kann auch sein, daß
einer geklärten Volksstimmung gegenüber einmal zu einer Reichstagsauflösung
geschritten wird. Ich bemerke, daß ich nicht etwa Schutzzöllner von Grund-
satz bin. Allein einer Bewegung gegenüber, welche durch die ganze Welt geht (? die
Red.), kann man nicht wissen, wie weit man genöthigt wird, zu gehen.*) Jeden¬
falls ist jenes Dogma(? d. Red.) unhaltbar, daß der Freihändler immer im Vortheil
bleibe, auch wenn ihn überall die Mauern des Schutzzolls umgeben, und noch
weniger ist dieses Dogma in der Lage des deutschen Reiches anwendbar. --

Das andere parlamentarische Ereigniß dieser Woche trägt ebenfalls das
Datum des 12. December. Es ist das Schreiben des Reichskanzlers an den
Präsidenten des Reichstags über die Punkte, welche der Bundesrath in den
Reichstagbeschlüssen zu den Justizgesetzen für unannehmbar erklärte. Als
diese Zusammenstellung bekannt wurde, wollte man das Schicksal der Justiz¬
gesetze auf vielen Seiten für besiegelt ansehen, im Sinne des gänzlichen
Scheiterns. Einige Stimmen namentlich der national-liberalen Partei riefen,
das Vaterland sei in Gefahr, und verübelten es den Bundesregierungen im
höchsten Maaße, um angeblich geringfügiger Dinge willen eines der größten
Werke scheitern zu lassen. Die Stimmen der Fortschrittspartei jubelten bei
der Aussicht, die nationalliberale Partei könne zersprengt werden und ein
großer Theil der Nationalliberalen zum Fortschritt hinübertreten. Statt
dessen stehen die Dinge so, daß das Einverständniß zwischen der Reichsregie¬
rung und der national-liberalen Partei auf dem Wege vertraulicher Verhand¬
lung gesichert scheint.

Es sind zunächst nichts weniger als Kleinigkeiten, um welche sich die
Differenz bewegt. Da handelt es sich zunächst im Gerichtsverfasfungsgesetzn



") Bei jeder Erneuerung internationaler Handelsverträge, wie sie jetzt bevorsteht, lauft,
die schutzzöllnerischen Interessen Sturm. Welche Erfolge sie in den neuen Vorträgen erringen
ist D. Red. eine andere Frage.

Reichstag verantwortlich, oder die Regierungen, deren Bevollmächtigte den
Bundesrath bilden. Als Dilettant habe er in Wirthschaftsfragen keine vor-
gefaßte Meinung, die ihn hindern könnte, eine vom Reichstag empfohlene
Wirthschaftspolitik zur Durchführung zu bringen. —

Meines Erachtens liegt hierin eine deutliche Aufforderung, bei den bevor¬
stehenden Reichstagswahlen die Stellung der Abgeordneten zur Handels- und
Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen.

Es ist übrigens wohl anzunehmen, daß selbst mit einer freihändlerischen
Majorität im nächsten Reichstag die Frage der deutschen Handelspolitik doch
noch nicht entschieden ist. Es kann sein, daß selbst die Freihändler in er¬
heblicher Zahl sich bekehren; es kann sein, daß die Stimmung des Volkes
dermaßen gegen den bloßen Freihandel umschlägt, daß bei den Volksvertretern
Nachgiebigkeit oder Mandatsniederlegung eintritt; es kann auch sein, daß
einer geklärten Volksstimmung gegenüber einmal zu einer Reichstagsauflösung
geschritten wird. Ich bemerke, daß ich nicht etwa Schutzzöllner von Grund-
satz bin. Allein einer Bewegung gegenüber, welche durch die ganze Welt geht (? die
Red.), kann man nicht wissen, wie weit man genöthigt wird, zu gehen.*) Jeden¬
falls ist jenes Dogma(? d. Red.) unhaltbar, daß der Freihändler immer im Vortheil
bleibe, auch wenn ihn überall die Mauern des Schutzzolls umgeben, und noch
weniger ist dieses Dogma in der Lage des deutschen Reiches anwendbar. —

Das andere parlamentarische Ereigniß dieser Woche trägt ebenfalls das
Datum des 12. December. Es ist das Schreiben des Reichskanzlers an den
Präsidenten des Reichstags über die Punkte, welche der Bundesrath in den
Reichstagbeschlüssen zu den Justizgesetzen für unannehmbar erklärte. Als
diese Zusammenstellung bekannt wurde, wollte man das Schicksal der Justiz¬
gesetze auf vielen Seiten für besiegelt ansehen, im Sinne des gänzlichen
Scheiterns. Einige Stimmen namentlich der national-liberalen Partei riefen,
das Vaterland sei in Gefahr, und verübelten es den Bundesregierungen im
höchsten Maaße, um angeblich geringfügiger Dinge willen eines der größten
Werke scheitern zu lassen. Die Stimmen der Fortschrittspartei jubelten bei
der Aussicht, die nationalliberale Partei könne zersprengt werden und ein
großer Theil der Nationalliberalen zum Fortschritt hinübertreten. Statt
dessen stehen die Dinge so, daß das Einverständniß zwischen der Reichsregie¬
rung und der national-liberalen Partei auf dem Wege vertraulicher Verhand¬
lung gesichert scheint.

Es sind zunächst nichts weniger als Kleinigkeiten, um welche sich die
Differenz bewegt. Da handelt es sich zunächst im Gerichtsverfasfungsgesetzn



") Bei jeder Erneuerung internationaler Handelsverträge, wie sie jetzt bevorsteht, lauft,
die schutzzöllnerischen Interessen Sturm. Welche Erfolge sie in den neuen Vorträgen erringen
ist D. Red. eine andere Frage.
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[0519] Reichstag verantwortlich, oder die Regierungen, deren Bevollmächtigte den Bundesrath bilden. Als Dilettant habe er in Wirthschaftsfragen keine vor- gefaßte Meinung, die ihn hindern könnte, eine vom Reichstag empfohlene Wirthschaftspolitik zur Durchführung zu bringen. — Meines Erachtens liegt hierin eine deutliche Aufforderung, bei den bevor¬ stehenden Reichstagswahlen die Stellung der Abgeordneten zur Handels- und Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen. Es ist übrigens wohl anzunehmen, daß selbst mit einer freihändlerischen Majorität im nächsten Reichstag die Frage der deutschen Handelspolitik doch noch nicht entschieden ist. Es kann sein, daß selbst die Freihändler in er¬ heblicher Zahl sich bekehren; es kann sein, daß die Stimmung des Volkes dermaßen gegen den bloßen Freihandel umschlägt, daß bei den Volksvertretern Nachgiebigkeit oder Mandatsniederlegung eintritt; es kann auch sein, daß einer geklärten Volksstimmung gegenüber einmal zu einer Reichstagsauflösung geschritten wird. Ich bemerke, daß ich nicht etwa Schutzzöllner von Grund- satz bin. Allein einer Bewegung gegenüber, welche durch die ganze Welt geht (? die Red.), kann man nicht wissen, wie weit man genöthigt wird, zu gehen.*) Jeden¬ falls ist jenes Dogma(? d. Red.) unhaltbar, daß der Freihändler immer im Vortheil bleibe, auch wenn ihn überall die Mauern des Schutzzolls umgeben, und noch weniger ist dieses Dogma in der Lage des deutschen Reiches anwendbar. — Das andere parlamentarische Ereigniß dieser Woche trägt ebenfalls das Datum des 12. December. Es ist das Schreiben des Reichskanzlers an den Präsidenten des Reichstags über die Punkte, welche der Bundesrath in den Reichstagbeschlüssen zu den Justizgesetzen für unannehmbar erklärte. Als diese Zusammenstellung bekannt wurde, wollte man das Schicksal der Justiz¬ gesetze auf vielen Seiten für besiegelt ansehen, im Sinne des gänzlichen Scheiterns. Einige Stimmen namentlich der national-liberalen Partei riefen, das Vaterland sei in Gefahr, und verübelten es den Bundesregierungen im höchsten Maaße, um angeblich geringfügiger Dinge willen eines der größten Werke scheitern zu lassen. Die Stimmen der Fortschrittspartei jubelten bei der Aussicht, die nationalliberale Partei könne zersprengt werden und ein großer Theil der Nationalliberalen zum Fortschritt hinübertreten. Statt dessen stehen die Dinge so, daß das Einverständniß zwischen der Reichsregie¬ rung und der national-liberalen Partei auf dem Wege vertraulicher Verhand¬ lung gesichert scheint. Es sind zunächst nichts weniger als Kleinigkeiten, um welche sich die Differenz bewegt. Da handelt es sich zunächst im Gerichtsverfasfungsgesetzn ") Bei jeder Erneuerung internationaler Handelsverträge, wie sie jetzt bevorsteht, lauft, die schutzzöllnerischen Interessen Sturm. Welche Erfolge sie in den neuen Vorträgen erringen ist D. Red. eine andere Frage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/519>, abgerufen am 27.09.2024.