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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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wieder ausgebeutet, den Bundesrath, mit anderen Worten die Form der
Reichsregierung für unhaltbar zu erklären. Man will verantwortliche Mi¬
nister und bedenkt nicht, daß diese nur im Einheitsstaat fungiren können.
Während man sich scheut und mit gutem Grunde, an den Bundescharacter
des Reichs die Hand zu legen, curirt man unverständig gegen das Symptom,
welches aus dem Bundescharacter folgt, daß man nämlich, weil man eine
collective Souveränität in der Reichsregierung gegenüber hat, nicht noch ein¬
mal ein collegialisches Ministerium haben kann.

Die Reichsverfassung ertheilt jeder Regierung, die im Bundesrath über¬
stimmt worden, das Recht, ihre Anschauungen gleichwohl vor dem Reichstag
durch ihren Bundesbevollmächtigten vertreten zu lassen. Die Majorität des
Bundesraths aber, welche dem Reichstag gegenüber den Bundesrath als
solchen darstellt, soll einheitlich in den Reichstagsverhandlungen vertreten
werden. Dieser Punkt könnte und sollte schärfer geregelt werden. Aber das
ist schließlich eine Geschäftsordnungsfrage. --

Die Collectivsouveränität hat gewiß ihre Uebelstände. Aber sie ist eine
Folge der deutschen Geschichte, und es giebt keinen Weg sie zu beseitigen, als
die Revolution. Was will man also? Will man Minister, die verantwort¬
lich sind, aber nichts ausrichten können? Will man, was doch jedenfalls der
Gedanke ist, verantwortliche Minister mit den vollständigen Befugnissen der
Regierung, so muß man erst den Einheitsstaat einführen. --

Die anscheinend so äußerliche Frage, ob für die Einführung der Justizgesetze
jetzt schon ein Termin festgesetzt werden soll, hat also durch die Antwort,
welche der Reichstag gegeben, eine verhängnißvolle Bedeutung gewonnen. Das
Nichtige wäre jedenfalls gewesen, die Ergänzungen zu den jetzigen Justizgesetzen,
deren Einbringung in der nächsten Legislatur dieReichsregierung zugesagt, alsdann
unter nochmaliger Erwägung der R eichscompetenz zu vereinbaren und danach
den Einführungstermin festzusetzen. Statt dessen ist man davon ausgegangen,
daß die Reichsregierung, oder was dasselbe ist, die Bundesregierungen ihr
Versprechen nicht halten werden, die Ergänzungsgesetze einzubringen. Und
doch sind es dieselben Regierungen, mit denen man im freien Zusammen¬
wirken bereits eine große Reihe der eingreifenden Reformen zu Stande ge¬
bracht und jetzt wieder die Justizgesetze eingeleitet hat. Man verläßt den
Weg ersprießlichen, vertrauungsvollen Zusammenwirkens und begiebt sich
aus unbegreiflichen Motiven, sei es Doktrinarismus, sei es Händelsucht,
sei es die willkürliche Borstellung fernliegender Gefahren, auf den Weg des
Streites. --

Aber es war für das kurze Einführungsgesetz zur Gerichtsverfassung noch
nicht der beschwerenden Last genug. Man mußte auch noch einen Paragraphen


wieder ausgebeutet, den Bundesrath, mit anderen Worten die Form der
Reichsregierung für unhaltbar zu erklären. Man will verantwortliche Mi¬
nister und bedenkt nicht, daß diese nur im Einheitsstaat fungiren können.
Während man sich scheut und mit gutem Grunde, an den Bundescharacter
des Reichs die Hand zu legen, curirt man unverständig gegen das Symptom,
welches aus dem Bundescharacter folgt, daß man nämlich, weil man eine
collective Souveränität in der Reichsregierung gegenüber hat, nicht noch ein¬
mal ein collegialisches Ministerium haben kann.

Die Reichsverfassung ertheilt jeder Regierung, die im Bundesrath über¬
stimmt worden, das Recht, ihre Anschauungen gleichwohl vor dem Reichstag
durch ihren Bundesbevollmächtigten vertreten zu lassen. Die Majorität des
Bundesraths aber, welche dem Reichstag gegenüber den Bundesrath als
solchen darstellt, soll einheitlich in den Reichstagsverhandlungen vertreten
werden. Dieser Punkt könnte und sollte schärfer geregelt werden. Aber das
ist schließlich eine Geschäftsordnungsfrage. —

Die Collectivsouveränität hat gewiß ihre Uebelstände. Aber sie ist eine
Folge der deutschen Geschichte, und es giebt keinen Weg sie zu beseitigen, als
die Revolution. Was will man also? Will man Minister, die verantwort¬
lich sind, aber nichts ausrichten können? Will man, was doch jedenfalls der
Gedanke ist, verantwortliche Minister mit den vollständigen Befugnissen der
Regierung, so muß man erst den Einheitsstaat einführen. —

Die anscheinend so äußerliche Frage, ob für die Einführung der Justizgesetze
jetzt schon ein Termin festgesetzt werden soll, hat also durch die Antwort,
welche der Reichstag gegeben, eine verhängnißvolle Bedeutung gewonnen. Das
Nichtige wäre jedenfalls gewesen, die Ergänzungen zu den jetzigen Justizgesetzen,
deren Einbringung in der nächsten Legislatur dieReichsregierung zugesagt, alsdann
unter nochmaliger Erwägung der R eichscompetenz zu vereinbaren und danach
den Einführungstermin festzusetzen. Statt dessen ist man davon ausgegangen,
daß die Reichsregierung, oder was dasselbe ist, die Bundesregierungen ihr
Versprechen nicht halten werden, die Ergänzungsgesetze einzubringen. Und
doch sind es dieselben Regierungen, mit denen man im freien Zusammen¬
wirken bereits eine große Reihe der eingreifenden Reformen zu Stande ge¬
bracht und jetzt wieder die Justizgesetze eingeleitet hat. Man verläßt den
Weg ersprießlichen, vertrauungsvollen Zusammenwirkens und begiebt sich
aus unbegreiflichen Motiven, sei es Doktrinarismus, sei es Händelsucht,
sei es die willkürliche Borstellung fernliegender Gefahren, auf den Weg des
Streites. —

Aber es war für das kurze Einführungsgesetz zur Gerichtsverfassung noch
nicht der beschwerenden Last genug. Man mußte auch noch einen Paragraphen


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[0433] wieder ausgebeutet, den Bundesrath, mit anderen Worten die Form der Reichsregierung für unhaltbar zu erklären. Man will verantwortliche Mi¬ nister und bedenkt nicht, daß diese nur im Einheitsstaat fungiren können. Während man sich scheut und mit gutem Grunde, an den Bundescharacter des Reichs die Hand zu legen, curirt man unverständig gegen das Symptom, welches aus dem Bundescharacter folgt, daß man nämlich, weil man eine collective Souveränität in der Reichsregierung gegenüber hat, nicht noch ein¬ mal ein collegialisches Ministerium haben kann. Die Reichsverfassung ertheilt jeder Regierung, die im Bundesrath über¬ stimmt worden, das Recht, ihre Anschauungen gleichwohl vor dem Reichstag durch ihren Bundesbevollmächtigten vertreten zu lassen. Die Majorität des Bundesraths aber, welche dem Reichstag gegenüber den Bundesrath als solchen darstellt, soll einheitlich in den Reichstagsverhandlungen vertreten werden. Dieser Punkt könnte und sollte schärfer geregelt werden. Aber das ist schließlich eine Geschäftsordnungsfrage. — Die Collectivsouveränität hat gewiß ihre Uebelstände. Aber sie ist eine Folge der deutschen Geschichte, und es giebt keinen Weg sie zu beseitigen, als die Revolution. Was will man also? Will man Minister, die verantwort¬ lich sind, aber nichts ausrichten können? Will man, was doch jedenfalls der Gedanke ist, verantwortliche Minister mit den vollständigen Befugnissen der Regierung, so muß man erst den Einheitsstaat einführen. — Die anscheinend so äußerliche Frage, ob für die Einführung der Justizgesetze jetzt schon ein Termin festgesetzt werden soll, hat also durch die Antwort, welche der Reichstag gegeben, eine verhängnißvolle Bedeutung gewonnen. Das Nichtige wäre jedenfalls gewesen, die Ergänzungen zu den jetzigen Justizgesetzen, deren Einbringung in der nächsten Legislatur dieReichsregierung zugesagt, alsdann unter nochmaliger Erwägung der R eichscompetenz zu vereinbaren und danach den Einführungstermin festzusetzen. Statt dessen ist man davon ausgegangen, daß die Reichsregierung, oder was dasselbe ist, die Bundesregierungen ihr Versprechen nicht halten werden, die Ergänzungsgesetze einzubringen. Und doch sind es dieselben Regierungen, mit denen man im freien Zusammen¬ wirken bereits eine große Reihe der eingreifenden Reformen zu Stande ge¬ bracht und jetzt wieder die Justizgesetze eingeleitet hat. Man verläßt den Weg ersprießlichen, vertrauungsvollen Zusammenwirkens und begiebt sich aus unbegreiflichen Motiven, sei es Doktrinarismus, sei es Händelsucht, sei es die willkürliche Borstellung fernliegender Gefahren, auf den Weg des Streites. — Aber es war für das kurze Einführungsgesetz zur Gerichtsverfassung noch nicht der beschwerenden Last genug. Man mußte auch noch einen Paragraphen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/433>, abgerufen am 27.09.2024.